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# taz.de -- Fridays for Future an der Uni: Examen in Weltrettung
> Die Klimakrise treibt junge Menschen an. Wie machen sie ihren Aktivismus
> zum Beruf? Und sind sie zufrieden mit ihren Studiengängen?
Bild: Students for Future beim Klimastreik im Mai 2019 in Berlin
Berlin taz | Noch hat Jule Hanstein ihr eigentliches Studium nicht begonnen
– und dennoch fühlt sich die 20-Jährige ganz gut mit ihrer Entscheidung.
Seit zwei Monaten ist sie in Lüneburg im Studiengang Umweltwissenschaften
eingeschrieben, im aktuellen Semester geht es um methodische Grundlagen und
andere Einführungskurse.
Ab April kann Hanstein Vorlesungen zum Abbau chemischer Stoffe in der
Umwelt besuchen, Seminare zur Mensch-Umwelt-Beziehung aus
politikwissenschaftlicher Sicht belegen oder sich für den Schwerpunkt
Nachhaltigkeitsmanagement entscheiden. Auch Kurse zum Umweltrecht, zur
Umweltethik oder Umweltphysik stehen zur Wahl.
So verschieden die Fachbereiche sind, die den Studiengang
Umweltwissenschaften ausmachen: Alle Veranstaltungen haben das Ziel, die
Studierenden zu einer „grundlegenden Transformation der Gesellschaft“ zu
befähigen, wie die Hochschule es formuliert. „Wollen Sie dazu beitragen,
Strategien für eine sichere, lebendige und gerechtere Zukunft zu
entwickeln?“, beginnt die Beschreibung des Bachelorstudiengangs auf der
Universitätswebsite.
Auf die Frage antwortet Jule Hanstein ohne zu zögern: „Die Klimakrise ist
die Problematik unserer Zeit.“ Deshalb möchte sie sich später in ihrem
Beruf für den Schutz des Klimas und der Umwelt engagieren. Das Studium soll
sie darauf vorbereiten.
Mit diesem Wunsch dürfte Jule Hanstein nicht allein sein. Vor zwei Jahren
wurde Deutschland von der Bewegung Fridays for Future erfasst. Viele der
Schüler:innen, die damals für das Klima auf die Straße gingen, sind
mittlerweile an den Unis und wollen Klimaschutz zum Beruf machen – darauf
deutet eine Umfrage der taz hin. Sie zeigt, dass die Nachfrage an
„Klimastudiengängen“ steigt.
So zählt beispielsweise der Masterstudiengang „Climate Physics“ der
Universität Kiel heute ein Drittel mehr Studierende als noch vor fünf
Jahren. Die Studierendenzahlen des Masters „Klima- und Umweltwandel“ an der
Universität Mainz haben sich in demselben Zeitraum fast verdoppelt. Auch
der Master „Klima- und Umweltwissenschaften“ in Augsburg verzeichnet
kontinuierlich steigende Studierendenzahlen.
Dort, wo die Zahl der Klimastudienplätze gleich geblieben ist, erhalten die
Hochschulen mehr Bewerbungen als noch vor zwei, drei Jahren. Viele
Hochschulen berichten der taz zudem von mehr Forschungsprojekten und
höheren Drittmitteleinnahmen im Bereich der Klimaforschung. Dazu passt,
dass die EU im September 1 Milliarde Euro für entsprechende Projekte und
Innovationen ausschrieb.
Manche Hochschulen haben neue Klimastudiengänge geschaffen, um ihr Profil
zu schärfen. So kann man an der Universität Gießen seit diesem Semester
„Nachwachsende Rohstoffe und Bioressourcen“ studieren. Außerdem bietet die
Hochschule seit drei Jahren den Master „Global Change“ in Kooperation mit
der Universität Dublin an. Für das nächste Wintersemester ist der Master
„Sustainable Transition“ geplant. Die Profilbildung ist jedoch nur ein Teil
des Wandels, der Hochschulen derzeit erfasst.
## Aktivist:innen verändern Hochschulen
Ein anderer kommt durch Studierende wie Jule Hanstein. Als Schülerin
beteiligte sie sich in ihrer Heimatstadt Itzehoe an den Klimastreiks. Heute
ist sie bei der Grünen Jugend und bei Extinction Rebellion aktiv. Hätte sie
daneben noch Luft, würde sie sich auch bei den Students for Future
engagieren.
Wie stark die Klimabewegung an deutschen Hochschulen ist, sah man schon vor
einem Jahr. Kurz vor der UN-Klimakonferenz in Madrid traten mehr als 80
Unis in den „Klimastreik“ und stellten eine ganze Woche ein alternatives
Programm mit diversen Veranstaltungen rund um die Klimakrise auf die Beine,
offen für alle Bürger:innen.
In diesem Semester fand eine digitale Neuauflage der „Public Climate
School“ statt. Wieder beteiligten sich zahlreiche Wissenschaftler:innen.
Und es bleibt nicht bei der Klimawoche einmal im Semester: An vielen
Hochschulen finden mittlerweile regelmäßig Klimavorlesungen statt. In 66
deutschen Städten sind Gruppen von [1][Students for Future] aktiv.
Wie die Klimaaktivist:innen das Hochschulleben verändern, kann Joybrato
Mukherjee erzählen. Der Anglist ist vergangene Woche für eine dritte
Amtszeit als Präsident der Universität Gießen wiedergewählt worden. Zuvor
musste Mukherjee dem AStA und dem Akademischen Senat darlegen, welchen
Beitrag zur Nachhaltigkeit die Universität mit ihm an der Spitze leisten
werde. „Das hat es früher so nicht gegeben“, sagt Mukherjee am Telefon.
## Neues Nachhaltigkeitsbüro in Gießen
Neu wird auch das Nachhaltigkeitsbüro an der Uni sein, das Mukherjee mit
Fördermitteln des Landes aufbauen will – und das sich auch mit den Students
for Future und den Scientists for Future austauschen wird. Ein drängendes
Thema für das Büro ist der Ressourcenverbrauch der Uni und das individuelle
Verhalten der Mitarbeitenden. „Wir haben vor Corona im Jahr 3 Millionen
Euro für Dienstreisen aus Landesmitteln ausgegeben“, sagt Mukherjee. „Da
müssen wir uns natürlich fragen, ob die alle notwendig sind“.
Was Universitätspräsident Mukherjee von oben steuert, versucht Jana Holz
von unten anzustoßen. Die 30-Jährige promoviert in Jena zu Bioökonomie als
sozialökologischem Transformationsprozess und ist im Vorstand des Vereins
netzwerk n aktiv. Ihr Ziel: Studentische Initiativen, die sich für
nachhaltige Hochschulen einsetzen, miteinander zu vernetzen und zu coachen.
Derzeit tauschen sich über die Plattform des Vereins mehr als 8.000
Studierende aus. Zum Beispiel darüber, wie man am besten einen Beschluss zu
Klimaneutralität verabschiedet.
„Bei netzwerk n geht es nicht nur darum, die Lehre nachhaltiger zu
gestalten, sondern vor allem um die Hochschulen selbst. So organisieren
manche Gruppen veganes Essen in der Mensa, andere fordern, dass ihre
Dozent:innen auf Flüge verzichten, und wieder andere kümmern sich darum,
dass Studierende sich in das Management der Uni einbringen können“,
berichtet Holz. Für die Promovendin sind die Hochschulen „der Hebel“, um
die Gesellschaft auf die Klimakrise vorzubereiten. Dieser „Transfer“ wird
aber noch dauern, vermutet sie.
Auch Freya Stoermer und Fabian Schäfer von der Bochumer Gruppe der Students
for Future sind noch nicht zufrieden mit der Rolle, die die Unis in der
Klimakrise spielen. Defizite sehen sie etwa beim Thema Klimagerechtigkeit:
Welchen Einfluss hat unser Wirtschaftssystem auf die Lebenssituation von
Menschen im Globalen Süden? Warum machen Menschen aus Arbeiterfamilien so
selten einen Masterabschluss? Diese Fragen kommen den Students for Future
an der Uni zu wenig vor.
## Klimaschutz wird interdisziplinär
Auch wenn es manchen Studierenden nicht schnell genug geht: Es tut sich was
in der Lehre. Das beobachtet auch Universitätspräsident Mukherjee aus
Gießen. „Die Gesellschaftswissenschaften spielen bei Klimafragen heute eine
viel größere Rolle als noch vor zehn, fünfzehn Jahren“. Lange war die
Beschäftigung mit Umwelt und Klima vor allem Sache der Natur- und
Lebenswissenschaftler:innen oder Geograf:innen.
Heute beschäftigen sich auch Soziolog:innen, Psycholog:innen,
[2][Wirtschaftswissenschaftler:innen] oder Jurist:innen mit den Folgen
der Klimakrise. Ähnlich wie in Gießen, Augsburg oder Kiel sind auch in
Lüneburg, wo Jule Hanstein studiert, gleich eine Handvoll Studiengänge mit
Klimabezug entstanden – und überall mit ausdrücklich interdisziplinärem
Konzept.
Einen etwas anderen Ansatz verfolgen die Technischen Hochschulen, die von
jeher praktisch ausbilden. „Bei uns geht es nicht allein um die Fakten zur
Klimakrise oder darum, die gesellschaftlichen Ursachen auszumachen. Wir
lehren, was Ingenieure gegen die Folgen des Klimawandels machen können“,
sagt Oleg Panferov von der Technischen Hochschule Bingen.
So müssten seine Studierenden etwa den CO2-Footprint einer Gemeinde
errechnen und je nach Ergebnis die sinnvollsten Klimaschutzmaßnahmen
ableiten können. „Wenn eine Stadt bei der Gebäudedämmung CO2 sparen möcht…
aber die Produktion der Dämmung mehr CO2 verbraucht, als sie später
einspart, muss das jemand auffallen.“
## Kein „Greta-Effekt“ in Bingen
Der 54-jährige Meteorologe und Klimatologe ist Studienleiter des
Studiengangs „Klimaschutz und Klimaanpassung“, den es seit sechs Jahren in
Bingen gibt. Damit ist die kleine Technische Hochschule Pionierin, wie
schon bei dem Studiengang Umweltschutz. Seit mehr als 45 Jahren bildet sie
Umweltschützer:innen aus, so lange wie keine andere deutsche Hochschule.
Das ist vielleicht der Grund, warum Professor Panferov keinen großen
„Greta-Effekt“ an seiner Hochschule spürt.
„Das Interesse für diese Themen war bei uns immer hoch“, sagt er. Bei der
Zahl der Bewerber:innen habe es in den vergangenen Jahren jedenfalls keine
nennenswerten Ausschläge gegeben. Ähnliches berichten auch andere
Technische Hochschulen, die Studiengänge mit Klimabezug anbieten. Was
Panferov jedoch auffällt: So häufig wie in den vergangenen zwei Jahren
wurde er bisher nie als Experte angefragt. Selbst seine Studierenden gehen
regelmäßig an Schulen, um über die Klimakrise und mögliche Gegenrezepte zu
reden.
Das macht auch Till Adler gern. Der 22-Jährige studiert im dritten Semester
Umwelttechnik an der Hochschule Rhein-Main. Wie Jule Hanstein aus Lüneburg
will er sich später beruflich gegen den Klimawandel engagieren. Im
Gegensatz zu ihr hat er aber nie die Klimastreiks der Fridays for Future
besucht. „Jeder soll sich dort für’s Klima einsetzen, wo er am sinnvollsten
kann.“
Als Ingenieur sieht Adler seinen Platz in der lokalen Umweltpolitik. Seine
Heimatstadt Bensheim will bis 2035 klimaneutral sein, da könnten sie doch
Leute wie ihn gebrauchen. Adler lernt, wie man bestimmte Stoffe ohne Chemie
aus dem Wasser filtern kann, wie man Gebäude energetisch nachrüstet. Was
ihm in seinem Studiengang manchmal fehlt: der Blick für’s große Ganze. „W…
lernen, wie wir als Ingenieure die Umwelt retten können, aber nicht, wie
wir als Gesellschaft dahin kommen.“
Auch Luisa Nübling will die Gesellschaft verändern – und dafür nicht auf
einen Abschluss warten. Ihre Schauspielausbildung hat sie abgebrochen, um
Aktivismus in Vollzeit zu machen. „Schon während der Schauspielschule habe
ich gemerkt, ich sitze hier, aber müsste eigentlich woanders sein“,
berichtet sie. „Jetzt habe ich das Gefühl, ich bin da, wo ich sein müsste.�…
16 Dec 2020
## LINKS
[1] /Immer-mehr-Students-for-Future-Gruppen/!5642969
[2] /Wirtschaftswissenschaften-und-Oekologie/!5717218
## AUTOREN
Ralf Pauli
Leonie Sontheimer
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