# taz.de -- Prozess in Schweiz: Mit Bierdosen und Gummigeschossen | |
> Vor zwei Jahren kam es in der Schweizer Stadt Basel zu Zusammenstößen | |
> zwischen linken Demonstrant:innen und Polizeikräften. Nun beginnt der | |
> Prozess. | |
Bild: Am 28. November erinnern linke Aktivist:innen an die folgenreiche Anti-PN… | |
BASEL taz | Als am Wochenende rund 2.000 Menschen durch die wegen der | |
Coronapandemie ansonsten leeren Straßen von Basel laufen und „Basel | |
Nazifrei!“ rufen, erinnern sie an Ereignisse vor zwei Jahren, als eine | |
Demonstration und ein Polizeieinsatz aus dem Ruder liefen. Bis heute | |
beschäftigt der Vorfall die Schweizer Justiz. | |
Am 24. November 2018 hatten sich rund 2.000 Demonstrant:innen in Basel | |
versammelt, um gegen eine Kundgebung der rechtsextremen Partei National | |
Orientierter Schweizer (PNOS) zu protestieren. Auch Clément Walter, dessen | |
Name hier geändert wurde, war an der Gegendemo beteiligt, sogar seinen | |
Vater habe er getroffen, der sonst nicht politisch aktiv sei, denn die Demo | |
sei bunt gewesen: Junge und Alte, Politiker:innen und Aktivist:innen, | |
Menschen aus verschiedenen Städten. | |
Sie wollten die zwei Dutzend Teilnehmer:innen der PNOS-Kundgebung vom Platz | |
verdrängen, die von einem Großaufgebot der Polizei geschützt wurden. Damals | |
Anwesende berichten von vereinzelten „Scharmützeln“ zwischen | |
Polizist:innen, Gegendemonstrant:innen und PNOS-Anhänger:innen. | |
Dann löste sich ein Mann aus dem Gegendemozug, wie auf Videoaufnahmen aus | |
den Ermittlungsakten zu sehen ist. Er tanzte mit erhobenen Händen herum und | |
übertrat das Absperrband, das den Sicherheitsabstand zur Polizeikette | |
markiert. Diese feuerte ein Gummigeschoss in die Gegendemonstration. Die | |
Menschen liefen auseinander, es flogen Steine, Bierdosen und aufgehobene | |
Gummigeschosse in Richtung Polizei. | |
Diese Stunden beschäftigen die Basler Justiz seit zwei Jahren – und werfen | |
Fragen über ihre Unabhängigkeit auf. | |
## Unscharfe Anklagepunkte | |
Überraschend nahm die Staatsanwaltschaft im Frühling 2019 die Ermittlungen | |
gegen rund sechzig Gegendemonstrant:innen auf, seit Juli 2020 laufen die | |
Verhandlungen. Auch Walter wird in Polizeigewahrsam genommen. Jetzt muss er | |
vor Gericht. Die Anklage gegen ihn lautet: Landfriedensbruch, qualifizierte | |
Gewalt und Drohung gegen Beamte und Behörden, versuchte Körperverletzung | |
mit einem gefährlichen Gegenstand. Worauf genau sich die Anschuldigungen | |
beziehen, wisse er nicht. Die Tatbestände sind weit gefasst. | |
Mit Landfriedensbruch etwa können Menschen belangt werden, die „an einer | |
öffentlichen Zusammenrottung“ teilnehmen, bei der „mit vereinten Kräften | |
gegen Menschen oder Sachen Gewalttätigkeiten begangen werden“. Dafür muss | |
die Person nur anwesend sein. | |
Der emeritierte Strafrechtsprofessor Peter Albrecht sagt dazu: | |
„Kriminalpolitisch ist der Landfriedensbruch dazu da, die Beweisfindung zu | |
erleichtern. Denn Straftaten, die von einer Gruppe ausgehen, können die | |
Behörden oft nicht einzelnen Personen zuordnen.“ | |
Der Anklagepunkt „Gewalt und Drohung gegen Behörden und Beamte“ und | |
„versuchte Körperverletzung mit einem gefährlichen Gegenstand“ bezog sich | |
in den bisherigen Verhandlungen auf Steine, Bierdosen und aufgehobene | |
Gummigeschosse. Als Beweismittel dienen Videoaufnahmen der Polizei und | |
DNA-Spuren auf Gegenständen. | |
Auch dieser Anklagepunkt lässt Raum für Interpretationen: Bei einer | |
Verhandlung wurde diskutiert, ob eine leere Bierdose ein gefährliches | |
Geschoss gegen einen Polizisten in Vollmontur sei. Das Gericht entschied: | |
nicht gefährlich genug, um den Tatbestand der „versuchten Körperverletzung�… | |
zu erfüllen. | |
## Polizeieinsatz mit Härte | |
Gleichzeitig war der Polizeieinsatz an dem Tag und der [1][Einsatz von | |
Gummischrot] bisher kein entscheidendes Thema in den Verhandlungen. Einer | |
der Angeklagten wurde vom Gummigeschoss am Auge getroffen und hat bleibende | |
Schäden erlitten. Einzig bei ihm wirkte der Einsatz strafmildernd. | |
Kurz vor seiner Verhandlung gelangte ein Video aus den Ermittlungsakten an | |
die Öffentlichkeit. Darin sind mutmaßlich zwei Polizisten zu hören: „Die | |
Steine wären nicht geflogen, wenn wir nicht Gummi gegeben hätten.“ – „H… | |
Sie zuerst Gummi gegeben?“ – „Ja.“ – „Wieso?“ – „Als Ablenkun… | |
PNOS-Leute wegkönnen.“ Das Basler Justizdepartement nimmt zu diesem | |
Material keine Stellung. | |
Gegen die Polizei wurde wegen dieses Einsatzes von Gummischrot bereits | |
Anklage erhoben, ebenso gegen die Veranstalter der PNOS-Kundgebung, wegen | |
eines möglichen Vergehens gegen die Rassismus-Strafnorm. Beide Verfahren | |
sind noch anhängig. | |
## Acht Monate Haft wegen Landfriedensbruch | |
Obwohl die Verfahren gegen die Gegendemonstrant:innen denselben Vorfall | |
betreffen und die Anklagepunkte bei vielen identisch sind, werden sie | |
einzeln geführt anstatt in einer Sammelklage. Ihre Anwält:innen kritisieren | |
dieses Vorgehen, etwa der Anwalt Amr Abdelaziz: „Wenn mein Klient an der | |
Reihe ist, wird das Gericht schon so viele Urteile gefällt haben, die sich | |
auf dieselben Anklagepunkte und denselben Vorfall beziehen, dass die | |
Entscheidung eigentlich schon gefallen ist. Sonst würde das Gericht | |
widersprüchlich urteilen.“ | |
Als Anwalt sei er nur dazu da, den Anschein eines fairen Prozesses zu | |
erwecken. Er sieht das Recht auf ein unvoreingenommenes Gericht und auf | |
rechtliches Gehör möglicherweise verletzt. Die Staatsanwaltschaft äußert | |
sich nicht zu dem Vorgehen. Das Gericht erklärte, es bestehe kein Grund, | |
die Verfahren zu vereinen. | |
Bisher wurden 13 Urteile gefällt: Die meisten Angeklagten wurden zu | |
Haftstrafen zwischen sieben und 14 Monaten auf bis zu vier Jahre Bewährung | |
verurteilt. Freigesprochen wurde niemand. Das bisher härteste Urteil lautet | |
acht Monate Haft ohne Bewährung wegen Landfriedensbruch und passiver | |
Teilnahme an Gewalt. Der Demonstrantin konnte nicht nachgewiesen werden, | |
dass sie selbst Gewalt ausgeübt hat, nur, dass sie sich nicht entfernte. | |
Nach diesem Urteil ging eine Welle der Empörung durch die Schweizer Presse. | |
Der Richter der sozialdemokratischen SP rechtfertigte das Urteil in einer | |
Lokalzeitung. Der Angeklagten sei „keine günstige Prognose“ zu stellen, da | |
sie vor Gericht zu der Demonstration gestanden habe, in der Szene bekannt | |
sei und noch andere Verfahren gegen sie anhängig seien. | |
„Das überzeugt mich nicht“, sagt Strafrechtsprofessor Albrecht. „Die | |
Verfahren haben noch nicht zu einem rechtskräftigen Schuldspruch geführt, | |
es gilt die Unschuldsvermutung.“ Zudem sei es nicht zulässig, allein von | |
einer politischen Haltung auf eine Rückfallgefahr zu schließen. | |
## „Linke Bewegungen einschüchtern“ | |
Auch andere Verteidiger:innen in dem Verfahren sahen die Vorverurteilung | |
ihrer Mandant:innen in einem öffentlichen Brief durch den vorschnellen Gang | |
des Richters an die Presse bestätigt. Einzelne reichten ein Gesuch ein, um | |
zu bewirken, dass das Basler Gericht den Fall wegen Befangenheit an ein | |
außerkantonales Gericht abgeben muss. Das Gesuch wurde abgelehnt. | |
Sowohl Verteidigerin Eva Schürmann als auch Albrecht beobachten eine | |
Tendenz in der Basler Justiz hin zu strengeren Urteilen und repressiverem | |
Vorgehen. „Es scheint, als wolle man insbesondere linke Bewegungen | |
einschüchtern“, sagt Schürmann. In den vergangenen Jahren wurden linke | |
Aktivist:innen mehrmals wegen Landfriedensbruchs zu hohen Strafen | |
verurteilt. Die Staatsanwaltschaft arbeite zudem vermehrt mit | |
Untersuchungshaft und Hausdurchsuchungen. | |
„Der Einschüchterungsversuch hat nicht funktioniert“, sagt Walter. Eine | |
Kampagne des „Bündnis Basel Nazifrei“ begleitet die Prozesse. Vor jeder | |
Verhandlung sammeln sich einige Dutzend Menschen vor dem Gericht, um ihre | |
Solidarität zu bekunden, eine Spendenkampagne sammelt Geld, um die | |
Gerichtskosten zu decken. | |
1 Dec 2020 | |
## LINKS | |
[1] /Gewalt-gegen-Proteste-in-Chile/!5643053 | |
## AUTOREN | |
Anina Ritscher | |
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