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# taz.de -- Waldorfschulen und Corona: Gefährliche Freiräume
> Die Waldorfpädagogik baut auf „Erziehung zur Freiheit“. In der Pandemie
> ist an Waldorfschulen nicht klar, wo Freiheit aufhört und Diktatur
> beginnt.
Bild: Eingang zu einer Waldorfschule (Symbolfoto)
Jens Husch ist keiner, der „aus der Waldorfecke kommt“, wie er am Telefon
sagt. Mit Anthroposophie, Rudolf Steiner und Waldorfpädagogik habe er sich
nie wirklich beschäftigt. Dass sein Kind auf der Waldorfschule
Freiburg-Wiehre landete, sei Zufall. Ein Problem war es für ihn und seine
Frau nicht und dem Kind hat’s gefallen: keine Noten, viel Freiheit. Doch
dann kam Corona – und die Probleme.
Jens Husch heißt eigentlich anders. Er befürchtet Nachteile für sein Kind,
weil er sicher ist, dass ein Großteil der Eltern- und Lehrerschaft die
Coronamaßnahmen ablehne, seine Kritik also für sie ein Affront ist. Einige
Details, die die problematische Haltung der Schule gegenüber den
Coronamaßnahmen belegen, können deshalb hier nicht aufgeführt werden.
Das erste Mal wurde Husch vor den Sommerferien skeptisch, weil die Schule
sich seiner Meinung nach nicht an bestimmte Hygieneregeln hielt. Sie
erklärte, man sorge sich um die Waldorfpädagogik. „Die Pädagogik geht über
alles, über jede Pandemiemaßnahme“, sagt Husch. Und kurz vor Ende der
Sommerferien kam ein Aufruf aus der Elternschaft, in dem zum Maskenboykott
aufgerufen wurde. Bei Gesprächen mit anderen Eltern flogen die Fetzen,
einige äußerten sich verschwörungstheoretisch. „Es war teils schwer
erträglich“, sagt Husch.
Die Schule selbst verschickte Dutzende Mails, sie liegen der taz vor und
bestätigen Huschs Aussagen. Im Protokoll der Schulratssitzung von Anfang
Oktober etwa wird die Hygienebeauftragte der Schule zitiert. „Es gelte,
einen Raum zu schaffen, in dem sich alle wohl fühlten: So gibt es chronisch
Kranke oder auch Angehörige (…) die sich in der Schule weiter wohl und
sicher fühlen sollen. Und es gibt Gesunde, die sich durch das Tragen von
Masken in ihrer Freiheit eingeengt fühlen und Sorge um die Umsetzung der
Waldorfpädagogik haben.“ Für Husch klingt das diskriminierend. „Das ist d…
Geist, der an der Schule herrscht.“
In einer Mail Mitte Oktober schreibt die Schule: „Die Spielräume werden
noch einmal deutlich enger“, man sei darum bemüht „das noch Erlaubte genau
zu ergreifen“. Das lange Tragen von Masken habe „bedenkliche Seiten“, man
müsse versuchen, nicht „geistig zu verhärten“ und sich „nicht eng zu
machen“. Husch sagt: „Nie hat sich die Schule zur Maskenpflicht bekannt,
sie schürt Ängste und will Vorschriften umgehen.“
Auf konkrete Nachfragen antwortet die Schule in larmoyantem Ton mit
Gegenfragen zur taz, bekennt sich dabei nicht zur Maskenpflicht und geht
auf einen Großteil der Fragen nicht ein.
Es gibt etwa 250 Waldorfschulen in Deutschland mit knapp 90.000
SchülerInnen. Jede von ihnen ist autonom, hat individuelle Konzepte und
wird durch kollegiale Selbstverwaltung geleitet. Allgemeingültige Aussagen
lassen sich deshalb kaum treffen. „Erziehung zur Freiheit“ lautet das Motto
der Waldorfpädagogik. Da die Freiheit derzeit eingeschränkt ist, wundert es
nicht, dass es im Waldorfumfeld heftige Auseinandersetzungen gibt. Auf
Demos gegen die staatlichen Maßnahmen sind neben Rechtsextremen auch viele
Esoteriker und Menschen aus der Anthroposophen- und Waldorfszene dabei.
Für den Religionswissenschaftler und Experten für Verschwörungsmythen
Michael Blume ist das keine Überraschung. „Anthroposophen sind eher
obrigkeitskritisch, viele sind skeptisch gegenüber der Schulmedizin“, sagt
er. Dazu kämen strukturelle Probleme der Waldorfpädagogik, etwa das Prinzip
kollektiver Führung, das gefährliche Freiräume schaffen könne.
Die Anthroposophische Gesellschaft habe erkannt, dass Corona zu schwierigen
Auseinandersetzungen untereinander führen kann, und ihn kürzlich zur
Diskussion eingeladen. Blume, der auch Antisemitismusbeauftragter von
Baden-Württemberg ist, ist überzeugt: „Corona wird die Anthroposophie in
Struktur und Lehre verändern.“ In welche Richtung, sei unklar. „Möglich
sind auch Abspaltungen.“
## Sie protestieren gegen Maskenpflicht
Betrachtet man einige Beispiele, wird deutlich, was Blume meint.
Vor der Waldorfschule Ulm hielten Eltern Ende Oktober eine Mahnwache gegen
die Maskenpflicht ab. Der Ulmer Waldorflehrer Wilfried Kessler [1][sprach
im Mai auf einer Demo] von „Zensur, Hetz- und Diffamierungskampagnen der
Regierung und der Hofmedien“, er forderte, die Verantwortlichen vor Gericht
zu stellen, und verbreitete Verschwörungsmythen.
Ähnlich argumentierte Christoph Hueck auf Querdenker-Demos. Hueck bildet
Waldorflehrer aus und sagt etwa: „Wenn wir ein gutes Immunsystem haben,
dann kann uns das Virus überhaupt nichts ausmachen.“ Bei Schlagworten wie
„Bill Gates“, „Freiheit“ und „Diktatur“ brandet Applaus auf, [2][wi…
zeigen.]
Der Görlitzer Waldorflehrer Thomas Brunner verschickte laut [3][Recherchen
des „anthroposophie.blogs]“ Ende April eine Mail an Waldorfeltern, in der
er vom „Wahnsinn der weltweiten politischen Manipulationen durch die
Pharmalobby“, der „Gleichschaltung der Medien“ und der „gewollten, brut…
Aktion zur Knechtung und Ausbeutung der ganzen Menschheit“ schrieb.
[4][Der Spiegel berichtete] kürzlich, dass sich an der Waldorfschule in
Müllheim ein Viertel der Lehrer der Maskenpflicht entziehe, ein Schüler
deshalb die Polizei rief. Ihm sei später von der Schule „Verrat und
Vertrauensbruch“ vorgeworfen und mit dem Schulausschluss gedroht worden.
Es gibt weitere Fälle: [5][Offene Briefe] von WaldorflehrerInnen, eine
Waldorfausbilderin, [6][die zum Verstoß gegen Coronamaßnahmen aufruft],
Verweise auf Eurythmie-Übungen und Globuli im Kampf gegen Corona.
Alle Waldorfschulen sind im Bund der Freien Waldorfschulen (BdFWS)
zusammengeschlossen. Offiziell, auch gegenüber der taz bekennt der sich zu
den Coronamaßnahmen und [7][distanziert sich von Verschwörungsmythen].
BdFWS-Sprecher Henning Kullak-Ublick sagt: „Ich kämpfe mit allem, was ich
habe, gegen diesen Verschwörungsunsinn.“ Er ist aber überzeugt, dass die
Mehrheit der Eltern und LehrerInnen die Maßnahmen, „die von den Schulen
natürlich umgesetzt werden, mittragen, auch wenn sie nicht mit allem
einverstanden sind“. An den allermeisten Schulen klappe es sehr gut,
„trotzdem bin ich nicht glücklich über manches, was da veröffentlicht
wurde. Aber wir arbeiten daran.“
## Waldorfschulen vor der Zerreißprobe
Er könnte seine Arbeit beim verbandseigenen Magazin
[8][erziehungskunst.de ] beginnen. Einige Beiträge dort sind bedenklich.
Chefredakteur Mathias Maurer etwa vergleicht [9][im Oktober] Masken mit
Burkas. [10][Im November schreibt er einen Text], den man mit „Wir lassen
uns das Singen nicht verbieten“ zusammenfassen kann. Singen sei „das
Gegenbild einer von Masken behinderten Kommunikation, die einen das eigene
Kohlendioxid wieder einatmen lassen.“ Man dürfe nicht zu
„summend-brummenden Käfern werden oder zwischen Trennscheiben musizieren“.
Das sei gegen die Menschenwürde.
Im März durfte der umstrittene Arzt Wolfgang Wodarg auf Erziehungskunst
[11][seine Thesen zu Corona verbreiten]. Er verharmloste die Pandemie und
sprach von „Panik-Meldungen“. Sein Beitrag ist inzwischen gelöscht.
Unter einem durchaus [12][differenzierten Beitrag] von BdFWS-Sprecher
Kullak-Ublick – in dem er den Medien allerdings ein „meist unterirdisches
journalistisches Niveau“ attestiert – fordern viele Kommentatoren, dass
sich der Verband von den Coronamaßnahmen distanziere. Kullak-Ublick
kommentiert: „Ich kenne etliche Beispiele dafür, wie Menschen aus dem
unmittelbaren Waldorfumfeld sich mit rechtsradikalen, knallhart
verschwörungsmythischen und teilweise extrem aggressiven Äußerungen in die
Debatte eingeschaltet haben.“
Die schulische Zukunft von Jens Huschs Kind in Freiburg ist ungewiss. Er
und seine Frau überlegen, ob sie eine andere Schule suchen, eine „normale“,
sagt er. Schule müsse neutral sein. Anstatt zu sagen: „Wir haben eine
Pandemie und tun alles, um SchülerInnen und Angehörige zu schützen“, werde
stets nach Mittelwegen und Schlupflöchern gesucht. „Und für den ganzen
Quatsch zahlen wir noch Schulgeld.“
4 Dec 2020
## LINKS
[1] https://was-keiner-wagt-biberach.de/rede-auf-der-vierten-demonstration-fuer…
[2] https://www.akanthos-akademie.de/2020/05/07/rede-von-christoph-hueck/
[3] https://anthroposophie.blog/2020/05/27/neues-von-der-querfront/
[4] https://www.spiegel.de/panorama/bildung/corona-leugner-in-der-lehrerschaft-…
[5] https://offener-brief-schulministerin.jimdofree.com/
[6] https://anthroposophie.blog/2020/09/22/zieh-das-ding-aus-waldorflehrerin-ig…
[7] https://www.waldorfschule.de/ueber-uns/corona-faq?kategorie=VS_Erklaerung_5…
[8] https://www.erziehungskunst.de/startseite/
[9] https://www.erziehungskunst.de/artikel/editorial/gesichtslos/
[10] https://www.erziehungskunst.de/artikel/editorial/eigentlich/
[11] https://anthroposophie.blog/2020/04/07/corona-mythen-a-z/
[12] https://www.erziehungskunst.de/artikel/standpunkt/freiheit-statt-willkuer/
## AUTOREN
Paul Wrusch
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