Introduction
Introduction Statistics Contact Development Disclaimer Help
# taz.de -- Waldorf, Weleda, Demeter und Co: Die mit ihrem Namen tanzen
> Masernpartys und Wiedergeburt – was sind die Anthroposophen für welche?
> Ein neues Buch widmet sich dem Phänomen kritisch-differenziert.
Bild: Historische Eurythmie-Aufführung im „Goetheanum“ im schweizerischen …
Mein ältester Sohn wurde in einer weltanschaulich gebundenen Klinik
geboren. Das hatte den ganz praktischen Grund, dass er sich trotz
zahlreicher Bemühungen seiner Eltern weigerte, der Angelegenheit da draußen
anders erstzubegegnen als mit dem Hintern voraus. In der weltanschaulich
gebundenen Klinik fanden wir nach einer Odyssee durch Staats-
beziehungsweise privatisierte Krankenhäuser einen Arzt, der noch die
nötigen Handgriffe draufhatte, um unser Kind ohne Kaiserschnitt auf die
Welt zu bringen.
Und ob nun dieser Geburtshelfer sowie die sehr kompetenten Hebammen und
Pflegekräfte sozusagen nebenbei allerlei problematische und einer
wissenschaftlichen Kritik nicht standhaltende Dinge glaubten – das war uns
in dieser Zeit aufs Äußerste egal: Genauso egal wie die Möglichkeit, dass
die dort tätigen Menschen nur deswegen so in sich ruhten, eben gerade weil
sie an den Heiligen Geist und die unbefleckte Empfängnis glaubten und
obwohl sie für eine Institution, die katholische Kirche, arbeiteten, deren
Irrtümer und Verbrechen so zahlreich sind, dass diese ganze Zeitung nicht
hinreichen würde, um sie aufzuzählen.
Menschen machen sich seltsame Vorstellungen von sich selbst und ihrer
Umgebung, und andere Menschen, die diese Ideen nicht teilen – ja sie sogar,
wenn sie in ihren Grundlagen und Konsequenzen vor ihnen ausgebreitet
würden, scharf ablehnten –, vertrauen ihnen trotzdem ihre Gesundheit an und
ihre Kinder. Sie handeln sozusagen, auch wenn sie sich selbst ein
rationales Weltbild zuschreiben, diesem entgegen – und fahren oft sehr gut
damit.
Diesem Widerspruch versucht das Buch von Helmut Zander „Die Anthroposophie:
Rudolf Steiners Ideen zwischen Esoterik, Weleda, Demeter und
Waldorfpädagogik“ auf den Grund zu gehen: Ohne Schaum vor dem Mund oder
Filz vor den Augen, mit wirklichem Erkenntnisinteresse, aber immer mit
kritischem, ironischerweise ebenfalls weltanschaulich gebundenem Abstand –
Zander ist katholischer Theologe und lehrt Religionswissenschaften an der
Universität Fribourg.
## Ein Machtfaktor
„Die Anthroposophie wäre heute weitgehend vergessen, wenn es ihre
Praxisfelder nicht gäbe“, schreibt Zander. Und beantwortet damit die Frage,
wen eigentlich ein Buch über die Lehre eines vor beinahe hundert Jahren
gestorbenen österreichischen Esoterikers, so populär geschrieben und
lesefreundlich in kurze, alphabetische Abschnitte gegliedert es auch ist,
überhaupt interessieren soll.
Nehmen wir zu den Titelschlagworten Weleda, Demeter, [1][Waldorfpädagogik]
noch die dm-Drogeriemärkte, die GLS-Bank, Dr. Hauschka sowie
selbstverständlich die aktuellen Topthemen Globuli, Homöopathie und
(Masern-)Impfung hinzu: Dann müssen wir anerkennen, dass die Anthroposophie
Rudolf Steiners (1861–1925) nicht nur esoterische Randgrüppchen betrifft,
sondern ein wesentlicher politischer und ökonomischer Machtfaktor im
bundesrepublikanischen (Eliten-)Diskurs ist.
Allein jüngste Meldungen sind hier Beleg genug. Mit 120 Stimmen zu 47
Gegenstimmen wurde im bayerischen Landtag am 7. November „ein fatales
Signal gesetzt“, [2][hieß es etwa im Wiener Standard. ] Der Freistaat wolle
mit einer Studie klären, ob alternativmedizinische Methoden den Einsatz von
Antibiotika und die damit einhergehende zunehmende Entstehung
multiresistenter Keime reduzieren könnten – die Homöopathie-Lobby werde
darüber jubeln. Von den 38 Grünen-Abgeordneten im Landtag stimmten 29 mit
den Regierungsfraktionen von CSU und Freien Wählern.
Bayerisch-grüne Sonderwege? Mitnichten: Um zu verhindern, dass die
Delegierten beim Bundesparteitag am vergangenen Wochenende in Bielefeld
sich mit eurythmischen Schleiertüchern würgten, spielte die grüne Führung
auf Zeit und beschloss vorab die Einsetzung einer Kommission, die dem
Parteitag im nächsten Jahr eine Positionierung unter anderem zu dieser
Frage vorlegen soll: „In welchem Spannungsverhältnis stehen evidenzbasierte
Wissenschaft und ein ganzheitlicher Gesundheitsbegriff?“
## Und dann Gesamtkonferenz
Für die einen geht das in die Richtung eines Ausschusses zur Klärung der
Frage, ob die Erde tatsächlich rund sei; die anderen können sich gut auf
Zander berufen, der im Abschnitt „Medizin“ – dem längsten des ganzen Buc…
– schreibt, „die Erfolgsformel“ der Anthroposophen liege „in dem Anspru…
nicht nur Alternatives, sondern auch Standardmedizin zu bieten“. Viele
Menschen wollten heute „genau diese Kombination“ und auch der
„wissenschaftsgläubige“ Meister Steiner wollte nur „das Beste aus diesen…
oft verfeindeten Heilbehandlungen sichern“.
Dagegen kann man als toleranter und mit den Abgründen der Schuldmedizin im
Praxistest abgefertigter Patient nun eigentlich wenig haben, weswegen es
bei der Auseinandersetzung um die Homöopathie auch vor allem ums Geld geht
– [3][wobei eben auch nicht nur, wenn es etwa in der taz apodiktisch hieß:]
„Im Vergleich zu den Gesamtausgaben im Gesundheitssystem ist die Summe
nicht allzu groß. Aber es geht auch nicht nur ums Geld: Es geht darum, zu
zeigen, was eine aufgeklärte Gesellschaft als Medizin akzeptieren darf
(alles mit Wirkungsnachweis) und was nicht (alles andere).“ Da werden sich
nicht nur die Geschädigten des staatlich als Medizin zugelassenen
Contergans so einige Fragen stellen.
Seinen Peak erklimmt der Streit um Steiners „geisteswissenschaftlich“
fundierte Parallelmedizin bei der Impf- und insbesondere bei der
Masernimpfungsfrage. Die Pflicht zu dieser hat der Bundestag am
vergangenen Donnerstag beschlossen, und zwar nach Rückfrage beim
Bundesministerium für Gesundheit explizit auch für Träger freier Schulen
und Kitas, also eben nicht nur für die im Waldorfjargon „Staatsschulen“
genannten Einrichtungen.
Wer schon mal an einer „Gesamtkonferenz“ einer Waldorfschule teilgenommen
hat und dort Zeuge der Forderung wurde, zur Eindämmung der nicht enden
wollenden Läuseplage sollten am Eingang die Köpfe jedes Kindes untersucht
werden, was ohnehin schon schreckliche Assoziation weckt – der wird ein
solches prophylaktisches Verlangen noch absurder finden, wenn er weiß, dass
viele Kinder aus ideologischen Gründen nicht (mal) gegen Masern geimpft
sind. Der Läuseantrag wurde übrigens bestenfalls belächelt und gar nicht
erst zur Abstimmung gebracht.
## Kein dogmatisches Impfverbot
Was es mit der Steiner’schen Impfscheu auf sich hat, erläutert Zander im
eigenen Kapitel „Masern“. Anthroposophische Schulen, stellt er zunächst
nach Auflistung einiger Ausbruchsgeschichten fest, dürften
„mitverantwortlich für die europaweite Verbreitung von Masern sein“, mit
Impfraten der Schüler:innen unter 20 Prozent. Die Eltern erwarteten,
„dass Kinder gestärkt aus dem Kampf“ mit der Krankheit hervorgingen.
„Die geistig-seelische Individualität des Kindes ringt mit den von den
Eltern abstammenden Vererbungskräften und will den Leib individualisieren“,
zitiert Zander die Masernleitlinie der Gesellschaft Anthroposophischer
Ärzte in Deutschland. Gefahren, auch tödliche, würden dabei nicht
unterschlagen, die soziale Problematik, also die Ansteckung Dritter, aber
„dramatisch“ kleingeredet. Ein „dogmatisches Impfverbot“ kann Zander
allerdings im Werk von Steiner nicht entdecken. Aus eigener Erfahrung kann
ich sagen, dass anthroposophische Ärzte mir nie von Impfungen abgeraten
oder gar ihre Durchführung verweigert haben.
Das Problem scheint mir dann auch eher ein soziologisches als ein
ideologisches zu sein. Waldorfschulen in Deutschland sind zweifellos
sogenannte Eliteschulen, nach Zander gegründet aus einem Geiste des
protestantischen Bildungsbürgertums, das in seiner asozialen Variante ohne
Rücksicht auf Verluste das sogenannte Beste für den eigenen Spross will, in
seiner sehr schönen etwa mit höchstem Engagement Willkommensklassen für
geflüchtete Kinder einrichtet.
Es ist eben diese Pluralität der weltweiten Waldorfbewegung, die Zander
betont und die schon in einer Stadt wie Berlin zu völlig verschiedenen
Interpretationen und zur unterschiedlichen praktischen Ausrichtung der
Kitas und Schulen führt – und zu beinharten Konflikten innerhalb der
„Schulgemeinschaft“, zwischen der im Schwinden begriffenen „Betonfraktion…
(Zander) und all den anderen.
Als mein Sohn dann vor 20 Jahren gut katholisch auf die Welt gekommen und
in ihr heimisch geworden war und wir eine Schule für ihn suchen mussten,
war die Wahl übrigens ganz einfach: Die Waldorfschule war die Einzige, die
einen nicht wie eine Kaserne begrüßte, die nicht wie eine Anstalt aussah
und die nicht nach Klo roch, sondern zur Weihnachtszeit morgens im
Kerzenlicht erstrahlte. Man muss kein Anthroposoph sein, um das
verwirklichen zu können. Aber wenn es hilft – wer wollte da das erste
Zuckerkügelchen werfen?
20 Nov 2019
## LINKS
[1] /Waldorfschulen-werden-100-Jahre-alt/!5621534
[2] https://www.derstandard.de/story/2000110820381/bayrischer-landtag-beschloss…
[3] /Frankreichs-Kasse-streicht-Homoeopathie/!5606687
## AUTOREN
Ambros Waibel
## TAGS
Waldorfschule
Rudolf Steiner
Masern
Waldorfschule
Verschwörungsmythen und Corona
Masern
Aufklärung
## ARTIKEL ZUM THEMA
Waldorfschule als Gemeinschaft: Zum Leben erweckt, doch uniform
Jahrelang fühlte unsere Kolumnistin sich in der Waldorfschule als Teil
einer Gemeinschaft. Dann merkte sie, wie beengt und gleichförmig die war.
Waldorfschulen und Corona: Gefährliche Freiräume
Die Waldorfpädagogik baut auf „Erziehung zur Freiheit“. In der Pandemie ist
an Waldorfschulen nicht klar, wo Freiheit aufhört und Diktatur beginnt.
Impfpflicht gegen Masern: Zwang zur Vernunft
Ab März 2020 wird die Masernimpfung für Kita, Schule und Tagespflege
verpflichtend. Gut so! Anders geht's ja offenbar nicht.
Impfen und Informationspflicht: Für ein konstruktives Arztgespräch
Diskussion über das Gesetz von Gesundheitsminister Jens Spahn zur
Impfpflicht: Gefordert wird weitere Patientenaufklärung.
You are viewing proxied material from taz.de. The copyright of proxied material belongs to its original authors. Any comments or complaints in relation to proxied material should be directed to the original authors of the content concerned. Please see the disclaimer for more details.