| # taz.de -- „Der Sandler“ von Markus Ostermair: Panorama des Lebens auf der… | |
| > Jede Figur hat ein Anrecht auf ihre Geschichte. Autor Markus Ostermair | |
| > schreibt in seinem Roman über Obdachlose. | |
| Bild: Die Geschichte der Obdachlosigkeit ist vor allem von Armut, Repression un… | |
| Es gibt keine offiziellen Zahlen, wie viele Menschen in Deutschland derzeit | |
| wohnungs- und obdachlos sind. Schätzungen aus dem Jahr 2017 zufolge sind | |
| 650.000 [1][Personen ohne Wohnung], und besonders die Zahl der Obdachlosen | |
| schwankt stark. Es sollen zwischen 48.000 und 85.000 sein. Doch eines ist | |
| sicher: Die Zunahme sozialer Ungleichheit hat zur Folge, dass immer mehr | |
| Menschen auf der Straße leben. | |
| Mit der Lebensform Obdachlosigkeit hat sich nun der Münchner Schriftsteller | |
| Markus Ostermair beschäftigt. Er legt seinen Debütroman „Der Sandler“ vor, | |
| der die Geschichte des Mathematiklehrers Karl Maurer erzählt. | |
| Ostermairs Roman ist in zweierlei Hinsicht bemerkenswert: in politischer | |
| und poetischer. Das macht ein gutes Buch der engagierten Literatur aus. | |
| Oftmals wird die Obdachlosigkeit als Faszinosum geschildert, [2][als | |
| maximaler Freiheitsentwurf, manchmal wird Vagabunden] auch eine tiefe | |
| Naturverbundenheit zugeschrieben. | |
| Das mag mitunter zutreffen, doch die Geschichte der Obdachlosigkeit ist | |
| seit Jahrhunderten vor allem eine von Armut, Repression und Erniedrigung. | |
| Von Bettelverboten im öffentlichen Raum, den zunehmend | |
| Ökonomisierungsprozesse dominieren, getrieben von der gesellschaftlichen | |
| Norm nach Verortung. | |
| ## Viele Bekannte und Feinde auf der Straße | |
| In sechs Tagen und sechs Nächten schildert der Roman vielstimmig die | |
| soziale Realität der Betroffenen. Anfangs erfordert das zugegeben ein wenig | |
| Ausdauer. Doch daran misst sich das Buch: Jede Figur hat ein Anrecht auf | |
| ihre Geschichte, und dieser Raum wird ihr gegeben. Da ist Karl Maurer, der | |
| ehemalige Mathematiklehrer, der aus kleinen Verhältnissen stammt und den | |
| der Unfalltod eines Kindes aus der Bahn wirft. Auf der Straße hat er viele | |
| Bekannte, auch Feinde und einen Freund: Lenz. | |
| Dann sind da noch der gerade aus dem Gefängnis entlassene Eisenkurt, der | |
| schon mit einem Bein auf der Straße steht, und Mechthild, die sich jeden | |
| Morgen den Kopf kahl rasiert. Ostermair trifft den Ton, reagiert mit einer | |
| einfühlsamen Sprache: Wenn es laut sein muss, ist die Sprache es hier, wenn | |
| es zart zugeht, ebenso. | |
| Er beschreibt die sozialen und psychologischen Verhältnisse genau: Es geht | |
| um Misstrauen und Rechtlosigkeit. Und um Angst. Um unruhigen Schlaf, um | |
| Alkohol als Bewältigungsstrategie, betteln zu müssen, unsichtbar zu sein | |
| und die Langeweile auszuhalten. | |
| Er beschreibt, wie Karl inmitten der Verheißung der Münchner Werbe- und | |
| Warenwelt lebt. Und dann ist da noch Lenz, der auf einer Zettelsammlung | |
| Utopien für ein Zusammenleben entwirft, für eine neue Gesellschaft ohne | |
| soziale Ungleichheit und Gewalt, der alles in einer Radikalität betrachtet, | |
| die zum Besseren führen soll. | |
| ## Normverstoß durch Nicht-Sesshaft-Sein | |
| Mechthild, der ein Beratungsgespräch aufgezwungen wird, dem sie sich immer | |
| wieder entzieht, denn am Ende des Systems, das viele überfordert, steht als | |
| „Belohnung“ die eigene Wohnung. Doch dazu sind viele nicht in der Lage, | |
| auch Mechthild nicht. | |
| In dem Essay „Unbehaust“, der 2017 im mikrotext Verlag erschien, | |
| beschäftigt sich die Literaturwissenschaftlerin Elke Brüns mit dem Thema | |
| Obdachlosigkeit. Sie spannt den Bogen von der Romantik bis zum „Tatort“, | |
| von Dickens bis Foucault. Sie verfolgt Obdachlose als widersprüchliche | |
| Sozial-, Imaginations- und Reflexionsfiguren. Mit ihrem | |
| [3][Nicht-Sesshaft-Sein verstoßen sie gegen die Norm]. | |
| Sie verweist auch auf Maxim Gorkis Drama „Nachtasyl“, das Anfang des | |
| letzten Jahrhunderts in Nischni Nowgorod spielt. Das holt Ostermair nach | |
| München: Karl, der sich an den belegten Broten in der Bahnhofsmission | |
| bedient, Eisenkurt, der um einen Schlafplatz kämpft, Mechthild, die durch | |
| die Parks zieht. | |
| Der Roman entwirft ein breit gefächertes Panorama des Lebens auf der | |
| Straße, und Ostermair gibt seinen Figuren den Raum, den sie brauchen. An | |
| diesem Roman wird es lange Zeit kein Vorbeikommen geben, wenn von | |
| Obdachlosigkeit in Deutschland die Rede ist. | |
| 23 Nov 2020 | |
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| ## AUTOREN | |
| Michaela Maria Müller | |
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