# taz.de -- A wie Adventskalender: Ran an die Socken! | |
> Am 1. Dezember ist es wieder so weit. Es geht mit Adventskalendern los. | |
> Fluch oder Segen? Selbst basteln oder kaufen? Anleitung für die | |
> Adventstage. | |
Bild: Ups, die wahrscheinlich mineralölverseuchte Süßigkeit ist schon aufgef… | |
Berlin taz | Jedes Jahr dasselbe Theater. In wenigen Tagen ist der 1. | |
Dezember und viele Menschen auch in dieser Stadt der Singles werden dennoch | |
einen oder gar zwei Adventskalender verschenken müssen. Die Zeit tickt | |
also, und wer dem allgemeinen Shoppingwahn eher kritisch gegenüberzustehen | |
pflegt, der schafft es wahrscheinlich nicht, über die Ekelgrenze zu | |
springen und keinen Adventskalender voller Sexspielzeuge, | |
Nagellackfläschchen oder Witzebüchlein zu erwerben – oder einen mit | |
Grillsaucentuben (!?), Saatguttüten oder Schraubenziehern. | |
Es gibt in diesem Marktsegment inzwischen nichts mehr, was es noch nicht | |
gibt. Schon allein deshalb bleibt vernünftigen Leuten, insbesondere jenen, | |
die Kinder haben, eigentlich gar nichts anderes übrig, als selbst | |
Adventskalender zu basteln. Und da gibt es sympathisch entspannte Varianten | |
aus Klopapierrollen und Wäscheklammern wie die eines geschätzten | |
taz-Kollegen. | |
Es gibt aber auch extrem Ambitionierte, die Mitmenschen mit | |
durchschnittlich viel Zeit und Muße durchaus unter Druck setzen können. In | |
gutbürgerlichen Wohnungen hängen öfter riesige Äste von Wänden, an denen 24 | |
aufwendig verpackte große Päckchen baumeln. Man hört von Menschen mit drei | |
Kindern, die schon im September begonnen haben, Stück für Stück 72 Walnüsse | |
vorsichtig in der Mitte zu spalten, mit Winzigkeiten zu füllen, wieder fein | |
säuberlich zu verkleben und hernach golden zu lackieren … | |
Und in der schön verzierten Riesenkiste voller Selbstgemachtem, die mal im | |
Bekanntenkreis verschenkt wurde, befanden sich Haarshampoo Marke Eigenbau, | |
selbst gezogene Kerzen, eigene Gedichte, ein extra genähter Brotbeutel und | |
allerlei mehr – nicht einmal die Familienfeierlichkeiten, die bei den | |
Beschenkten zusätzlich in die stressige Vorweihnachtszeit fallen, blieben | |
unberücksichtigt. | |
## Nicht mehr wegzudenken | |
Wer hat sich diesen Wahnsinn überhaupt ausgedacht, hört man immer wieder | |
Zeitgenossen um diesen Dreh herum stöhnen. Ist dieser ganze Stress im | |
Dezember nicht schon genug? | |
Angeblich, möchte man antworten, gehört der Adventskalender seit dem 19. | |
Jahrhundert zum christlichen Brauchtum und ist aus unserer Gesellschaft | |
nicht mehr wegzudenken. Markus Mergenthaler, Leiter des Museums des | |
Gipsherstellerimperiums Knauf in Iphofen, beschreibt in einem | |
Ausstellungskatalog, wie die Kinder vor 150 Jahren für jeden Tag im Advent | |
einen Strohhalm in die Krippe legten oder Kreidestriche an der Tür | |
auswischen sollten. | |
Erst spät, als gedruckte Kalender in die Massenproduktion gingen, einigte | |
man sich der Einfachheit halber darauf, dass die Kalender am 1. Dezember | |
beginnen sollten – obwohl die Adventszeit ja eigentlich am Vorabend des | |
ersten Advents beginnt und daher eben selten am 1. Dezember. | |
Nach dem Zweiten Weltkrieg ging’s richtig los mit den Adventskalendern, der | |
erste mit Schokolade kam angeblich 1958 auf den Markt. Dass man diese aber | |
besser nicht isst, wusste man schon lang vor der Warnung von Stiftung | |
Warentest, die 2012 feststellte, dass diese oft Mineralöle enthält. | |
## Das Problem sind – die Kinder | |
Es bleibt einem also wie gesagt nichts anderes übrig als Basteln. Wer wenig | |
Zeit, Fantasie, Geduld oder Geschick für so etwas hat, dem sei dazu | |
geraten, in eine Art Kompromisskalender zu investieren. | |
Vor Jahren bekam man solche zum Beispiel in verschiedenen Varianten in den | |
Kinderboutiquen in Prenzlauer Berg. Beispielsweise 24 sündhaft teure, in | |
Heimarbeit gefertigte possierliche Ministiefel aus 24 verschieden | |
bedruckten Stoffen. Diese sehen besser aus als die Jutesäckchen aus dem | |
skandinavischen Raum, bei denen jeder sofort ans schwedische Möbelhaus | |
denkt. So oder so ist das eine nachhaltige Variante, denn sie dürfen alle | |
Jahre wieder aus dem Keller an die Wand oder ans Regal. | |
Das Problem an dieser Spielart sind, falls beteiligt, die Kinder. Bis zu | |
einem gewissen Alter wissen diese, so nett sie sonst sein mögen, den Wert | |
eines Gegenstands wenig zu schätzen, der mit viel Liebe gefertigt ist, sich | |
aber nicht nach Industrie anfühlt und weder bunt noch lustig ist. Schon im | |
Alter von drei Jahren erkennen die meisten von ihnen mühelos Geschenke wie | |
Socken, Haargummis oder Bleistifte, deren Erwerb ohnehin dran gewesen wäre. | |
Und wer die Stiefel mit Süßigkeiten füllt, wird sie nur unter erheblichem | |
Kraftaufwand dazu bringen können, diese wegen der allgemeinen | |
Erkältungsgefahr im Dezember jeden Morgen so lang neben dem Teller zu | |
parken, bis das Vollkornbrot mit Gurke vollständig aufgegessen ist. | |
## Jedes Jahr 24 Kinkerlitzchen | |
Und eigentlich ist es auch viel zu zeitaufwendig, jedes Jahr 24 | |
Kinkerlitzchen zu finden, die irgendwie nach Spielzeugladen aussehen, | |
möglichst nicht in Billiglohnländern gefertigt wurden, maximal aber zwei | |
Euro das Stück kosten dürfen, damit nicht gleich das Gesamtbudget für | |
Weihnachten aufgezehrt ist. | |
Erschwerend kommt hinzu, dass die meisten Kinder dank Adventskalender über | |
ausreichend Murmeln, Radiergummis, Flummis, Kreisel und Jo-Jos verfügen. Es | |
gibt Eltern, die in ihrer Verzweiflung Kalender bekannter | |
Spielwarenproduzenten kaufen, am Abend vorm großen Tag alle Türchen öffnen | |
und den Inhalt derselben in die Stiefel oder Säckchen packen. So wie manche | |
Leute, die den Schnaps vom Aldi für die Gäste in die guten Flaschen | |
umfüllen. Also doch lieber Klopapierrollen und Wäscheklammern? | |
So oder so: Einen Vorteil hat der fragliche Brauch mit den Adventskalendern | |
am Ende auf jeden Fall. Während es in der dunklen Jahreszeit nämlich oft an | |
Unmöglichkeit grenzt, morgens aus dem Bett zu kommen, stehen | |
Adventskalenderbesitzer zumindest vom 1. bis zum 24. Dezember schneller auf | |
und rennen wie der Wind zu den 24 Socken oder den Kalendern mit der | |
Saucenkollektion. | |
Und: Während man eher vergessen hat, was es beispielsweise heißt, Zeit für | |
die Suche nach Informationen oder Lebenspartnern zu verwenden, auf einen | |
Urlaub zu warten oder sich bis zur Wiederausstrahlung eines Lieblingsfilms | |
im Fernsehen zu gedulden, hat man dank Adventskalender wenigstens nicht das | |
Gefühl vergessen, wie sich 24 Tage anfühlen. | |
28 Nov 2020 | |
## AUTOREN | |
Susanne Messmer | |
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