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# taz.de -- Kaśka Brylas Roman „Roter Affe“: Über alle Grenzen hinweg
> Kaśka Bryla hält in ihrem Debütroman „Roter Affe“ den Spannungsbogen in
> einer deutsch-polnisch-österreichischen Geschichte.
Bild: Babysitten und Gartenarbeit in einem Dorf in der Woiwodschaft Kujawien
Der „Rote Affe“ spielt zwischen Warschau und Wien, der JVA Moabit in Berlin
und einer Autofahrt durch Polen. Die verschiedenen Orte verknüpfen die
Biografien der Protagonist*innen Mania, Tomek, Ruth, Zahit und der
Hündin Sue miteinander, immer wieder wird die Erzählung durchkreuzt von
Kindheitserinnerung und Sprüngen in der Perspektive.
Die Erzählung beginnt mit einem Prolog, in dem Mania und Tomek noch Kinder
sind. Fast wirkt dieser Abschnitt zu naiv und die Sprache zu blumig für
das, was danach kommt. Ziemlich abrupt wirft Bryla die Leser*innen in
die teils sehr harte und von Gewalt geprägte Welt der erwachsenen Mania,
die als Gefängnispsychologin in der JVA Moabit arbeitet.
Wenn Bryla vorliest, spricht sie Mania wie Manja aus. Der Name ist also
keine Anspielung auf die „Manie“, wie man zunächst vermuten und für platt
befinden könnte, sondern einfach ein Name, der im Deutschen und Polnischen
gleich ausgesprochen wird.
## Krimi und Road-Novel
Brylas Debütroman ist vieles gleichzeitig: Krimi und Roadnovel, und
plötzlich steckt man als Lesende in seitenlangen Dialogen wie für eine
Theaterbühne geschrieben, mit kurzen Wortwechseln der Protagonist*innen
und sonst nichts. Im Experimentieren mit verschiedenen Genres und etwa in
der literarischen Ausgestaltung des Innenlebens der Hündin Sue stellt die
Autorin die Möglichkeiten und Grenzen des Schreibens immer wieder auf die
Probe.
Das Besondere zum Allgemeinen zu machen, bedeutet für Bryla, dass
Protagonist*innen migrieren und fliehen, ohne dass Migration oder
Flucht das Thema des Romans sind. Migrationsgeschichten werden nicht als
ununterbrochenes Hin-und-Hergerissensein zwischen verschiedenen
Parallelwelten dargestellt, sondern als Lebensrealität und Rahmen für
alles, was sonst noch passiert.
Es wird Polnisch gesprochen und nicht immer eine Übersetzung ins Deutsche
geliefert. Queeres und jüdisches Leben werden in die Handlung
eingeflochten, ohne als Identitätskrisen der Protagonist*innen
verhandelt zu werden.
## Ost-West-Geschichte
Wahrscheinlich könnte Bryla das Buch auch als „Ost-West-Geschichte“
verkaufen. Mit präzisen Beschreibungen gibt sie einen Einblick in
Geschichte und [1][Gesellschaft Polens.] Sie erzählt davon, wie „schlampig
eingezäunte Grundstücke mit kleinen, grauen Gebäuden aus kommunistischen
Zeiten dicht an dicht mit mafiösen Villen stehen und beweisen, dass sich im
Osten Europas die Gleichzeitigkeit von Vergangenheit und Gegenwart noch
nicht aufgelöst hat, um in die Zukunft des Westens überzugehen“.
Bei Vergangenem wie Gegenwärtigem wird die Handlung jeweils in einem
konkreten politischen Kontext erzählt: Die Wahlerfolge der PiS bleiben
nicht unkommentiert – der Partei, die Queers zu den Hauptfeinden der
polnischen Nation erklärte. Zahit kam 2015 nach Europa, Mania fuhr das Auto
über die österreichische Grenze.
Aus Dialogen und Erinnerungsfetzen lässt sich auf eine linke
Szenevergangenheit der beiden weiblichen Protagonistinnen schließen. Aber
auch darum geht es nicht primär. Denn die Themen, die sich als roter Faden
durch die Geschichte ziehen, sind große Fragen nach Gut und Böse, nach
menschlichen Abgründen, nach dem Umgang mit Missbrauchserfahrungen und
Traumata und danach, ob es ein Recht auf Rache geben kann.
In der Verhandlung dieser abstrakten und schwer zu greifenden
philosophischen Fragen schafft Bryla es, den Spannungsbogen konsequent
aufrechtzuerhalten. Es gibt keine Verschnaufpause, man brettert regelrecht
durch die Geschichte, genauso wie die Protagonistinnen Ruth und Mania
nachts über eine leere Autobahn.
## Gespräche wie unter Männern
Die langjährigen Freundinnen sitzen im Auto, spätabends fahren sie von Wien
nach Warschau. Während Ruth in den fünften Gang schaltet und der Zeiger die
Hundert-Stundenkilometer-Marke überschreitet, reden sie über [2][Theorien
des Bösen.] Zwei Frauen sprechen über alte und neue wissenschaftliche
Erkenntnisse, über Testverfahren aus der Psychologie, über Fälle, die es in
der Vergangenheit in die Presse geschafft haben. Solche Szenen werden
meistens für männliche Charaktere geschrieben.
Auf den letzten Seiten des Buches hat Bryla ihre Auseinandersetzung mit
Forensischer Psychiatrie, Borderline und Traumatherapie in einer langen
Literatur- und Filmliste transparent gemacht. Über mehrere Jahre hat sie
Workshops zu kreativem Schreiben in Gefängnissen gegeben.
In den immer wieder eingeflochtenen Notizen des Protagonisten Tomek
schreibt dieser: „Um zu verstehen, wie eine Person die Welt wahrnimmt, muss
man verstehen, wie die Welt diese Person wahrnimmt.“
Kaśka Brylas Schreiben schafft Raum für eine Vielzahl von Welten,
Realitäten und Personen, die sich nicht dafür entschuldigen, dass sie aus
der Norm einer weißen [3][bürgerlichen Mittelschicht] herausfallen.
1 Dec 2020
## LINKS
[1] /EU-Haushaltsstreit/!5727785
[2] /Neues-Buch-von-Erica-Fischer/!5573234
[3] /Stiftungen-foerdern-soziale-Ungleichheit/!5637088
## AUTOREN
Julia Wasenmüller
## TAGS
Roman
Polen
Deutschland
Flucht
Migration
Buch
Literatur
Nobelpreis für Literatur
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