# taz.de -- Alpenwanderung in Zeiten der Pandemie: Von Oberstdorf nach Meran | |
> Alleine wandern in den Bergen. Unsere Autorin wird vom Schnee überrascht | |
> und trifft skurrile Typen. Eine Überquerung der Alpen in Coronazeiten. | |
Bild: Wanderer, überrascht vom Neuschnee | |
Es ist August, ich bin auf 2.242 Metern Höhe, es schneit. Wenn etwas | |
Unerwartetes passiert, das Abenteuer verspricht, kribbelt es in mir, schön | |
und warm. Meine Hüttenmitbewohner haben eine geführte Tour gebucht. Ich | |
wandere alleine und habe Respekt vor dem Schnee. | |
Ich möchte in sechs Tagen mit 8 Kilo Gepäck die Alpen überqueren. Gewitter | |
und Regen sind angekündigt. Seit Covid-19 habe ich viel Zeit vor dem Laptop | |
verbracht. Ich suche Abenteuer, Weite, Ruhe und entscheide mich für die | |
bekannte Strecke Oberstdorf–Meran. Damit ich nicht allein bin, falls etwas | |
passiert. Ich bin sportlich, doch habe ich zuletzt im flachen Hamburg | |
gelebt. Werde ich den E5 schaffen? Wie viel ist los auf der Route zur | |
Coronazeit, und wem werde ich begegnen? | |
Tag 1, Spielmannsau. Ich starte mittags in der kleinen Stadt nahe | |
Oberstdorf im Allgäu. Der Ausschnitt Oberstdorf–Meran verspricht tolle | |
Aussichten und gilt als technisch anspruchsvoll. Der gesamte E5 erstreckt | |
sich von Brest an der französischen Atlantikküste bis in den | |
norditalienischen Ort Verona und ist mit 3.200 Kilometern einer der | |
längsten Fernwanderwege Europas. Ich werde rund 110 Kilometern zurücklegen, | |
von Deutschland, durch Österreich bis nach Italien, über fünf Bergketten | |
und durch sechs Täler, 6.200 Höhenmeter bergauf und 7.300 Höhenmeter | |
abwärts. | |
Nach wenigen Kilometern führt der Weg einen Fluss entlang. Es wird kühl, | |
Nebel dringt zwischen die Berge, ich trinke kühles Gipfelwasser. Keine | |
Menschen sind sichtbar. Als Covid-19 ausgebrochen ist, mussten Hütten | |
schließen und Reservierungen canceln. Jetzt sind die Hütten begrenzt unter | |
bestimmten Auflagen ausgelastet. | |
Es raschelt plötzlich, als ich den Alpenvereinsweg zur Kemptener Hütte | |
wandere. Ein Murmeltier erhebt sich und fixiert mich kauend für ein paar | |
Sekunden. Bevor ich realisiere, dass das sympathische Erdhörnchen mein | |
erstes Murmeltier in freier Wildbahn ist, verschwindet es wieder. | |
## Spezielle Notlager | |
Tag 2, Kemptener Hütte. Im sonst vollen Matratzenlager war wenig los und | |
ich habe nach einer kalten Dusche gut geschlafen. Die heutige Hütte konnte | |
ich im Gegensatz zu den anderen nicht reservieren. Normalerweise müssen | |
Schutzhütten Wanderer aufnehmen, außer Zeit und Wetterbedingungen lassen es | |
zu, andere Hütten zu erreichen oder ins Tal absteigen. Doch die dafür | |
speziellen Notlager sind wegen Covid-19 nicht erlaubt. Um sechs Uhr wandere | |
ich los, auch da Gewitter für den Nachmittag angekündigt ist. Ich steige in | |
südlicher Richtung zum Mädeljoch und überquere die Grenze zu Österreich. | |
Unzählige Salamander ziehen über den steinigen Weg, ihre schwarze Haut | |
glänzt im Regen. Beinahe im Tal, spaziere ich über die 200 Meter lange | |
Hängebrücke in Holzgau, deren Ende im Nebel verschwindet. | |
Später überholen mich Taxis mit geführten Wandergruppen auf einer Straße. | |
Ich spanne meinen Regenschirm auf, der in Wanderforen empfohlen wird. Bei | |
Dauerregen und flachen Strecken. Wie jetzt. Der Schirm streift meinen | |
Rucksack, der zusätzliche Kraftaufwand scheint mir zu groß – ich bin keine | |
Regenschirmwanderin. Nach zwei weiteren Stunden ohne Schirm treffe ich auf | |
drei Herren mit Hut, die unter einem Hüttenvordach Landjäger essen und sich | |
wie ich freuen, wenn die Straße endet. Als ich den Wald durchquert habe, | |
erhebt sich der Berg. Ich spüre meine fünfzehn gewanderten Kilometer und | |
blicke auf die Materialseilbahn mit dem Gepäck der geführten Gruppen. | |
Endlich kleine Wege, Weite, Natur. | |
Die Memminger Hütte liegt in einem Kessel umgeben vom Seekopf, Seekogel und | |
Seeschartenspitze. „Alles ausgebucht“, verkündet die Frau hinterm | |
Hüttentresen. Dann überlegt sie: „Bist du alleine?“ und schickt mich ins | |
Matratzenlager. In der Trockenkammer suche ich Platz für meine nassen | |
Wandersachen. Es riecht nach Schweiß, Lüftung und Wald. Dann reihe ich mich | |
mit Abstand in die kurze Schlange im Damenwaschraum ein. Ich wasche mich | |
schnell. | |
Abends lerne ich Tal und Alice kennen sowie Yusuf, der alleine unterwegs | |
ist. Ein breiter Mann mit Bart und Tattoos an Armen und Beinen, der | |
Geschäftsführer einer der größten Hiphop-Clubs Deutschlands. Wir essen mit | |
Trennwänden zwischen den Tischen wegen Covid-19, die auch im Matratzenlager | |
sind. Bevor ich schlafe, blicke ich darüber. Ein junger Mann grinst. „Wir | |
schlafen hier, weil alles nass ist. Eigentlich wollten wir biwakieren“, | |
erklärt er. Das heißt: im Freien schlafen. | |
## Neuschnee schon im August | |
Tag 3, Memminger Hütte, Matratzenlager, fünf Uhr: Menschen diskutieren, was | |
sie anziehen, ob die Teammitglieder wach sind, wie das Wetter ist. Ich | |
blicke aus dem Fenster auf Steinböcke und Schnee. Dann checke ich die | |
GPS-Daten auf meinem Handy, prüfe meinen Akku für die enge und steile | |
Passage zwischen Lech- und Inntal. | |
Draußen wandere ich vorbei an Seen und blicke auf weiße Berge. Wunderschön. | |
Doch auch die Wegmarkierungen sind mit Schnee bedeckt. Ich prüfe meinen | |
Standort, überhole eine Wandergruppe, bin wieder alleine, atme kühle Luft | |
ein. Es wird kühler und rutschiger. Ich erreiche erneut eine Gruppe. | |
„Magst du überholen?“, fragt mich der Bergführer, dem ich schon öfter | |
begegnet bin. Ich erkenne keine Gruppe oberhalb des Berges. „Nein, dieses | |
Mal nicht“, entscheide ich grinsend. Rechts geht es steil bergab. Eine Frau | |
wandert langsam mit zittrigen Beinen. „Ihr schafft das alle!“, ermutigt der | |
Bergführer seine Gruppe und rät: „Sichert euch mit den Stöcken ab.“ | |
Vor mir sehe ich einen Mann mit einem schwarzen Regencape über Rucksack und | |
Körper und hochgezogenen weißen Sportsocken. „Yusuf!“, rufe ich. Er dreht | |
sich um, und wir lachen. Mittlerweile ist alles um uns weiß. „Das habe ich | |
im heißesten Monat des Jahres noch nicht erlebt“, erzählt eine | |
Bergführerin. Wir ziehen uns bei 30 Zentimeter Neuschnee an Stahlseilen die | |
Felsen hoch, Hände werden in engen Passagen gereicht, es staut sich. Yusuf | |
nutzt den Empfang und telefoniert, als wir die Passage geschafft haben; die | |
anderen Wanderer blicken konzentriert auf den Weg. | |
Yusuf und ich überholen die Gruppen. In der Unterjochalm esse ich einen | |
Jausenteller mit regionalem Käse und Speck. Dann spaziere ich drei Stunden | |
an Felswänden hinab ins Oberinntal, während Nebel mystisch die Berge | |
hochklettert. | |
## Schweiß und Sonnencreme | |
Spätnachmittags erreiche ich die Skihütte Zams, dort habe ich ein | |
Bergsteigerpaket gebucht, inklusive einer Ration Wäsche. Beim | |
Kässpätzle-Essen erzählt Yusuf, Alice, Tal und mir, dass er Wanderschuhe | |
bei Decathlon für 12 Euro kaufen wollte, doch dann habe er doch 30 Euro | |
investiert. „Ich würde sie wieder kaufen!“, erzählt er begeistert. Über … | |
Knöchel gehen seine Schuhe nicht. | |
Tag 4, Skihütte Zams. Acht Uhr. Wir durchbrechen mit der Gondel die | |
Nebelschicht und haben endlich klare Sicht. Die Sonne wärmt uns, Kälber und | |
Pferde begegnen uns. Ich wandere alleine durch den Wald ins Tal. Später | |
entscheide ich mit Anne, die auch zu unserer Gruppe gehört, für den | |
Jägersteig-Weg zur Braunschweiger Hütte. Wir halten uns an Seilen, kraxeln | |
auf allen vieren die Felsen hoch, Schweiß und Sonnencreme vermischen sich. | |
Im oberen Teil des Weges blicken wir auf den Gletscher Mittelbergferner. | |
Der zweitgrößte Gletscher Tirols nach dem Gepatschferner, der durch den | |
Klimawandel deutlich kleiner geworden ist. | |
In der Braunschweiger Hütte essen wir mit Yusuf, Alice und Tal. Eine | |
zierliche Frau gesellt sich zu uns. Eine Lehrerin, die jetzt seit mehreren | |
Wochen mit ihrem Hund auf alpinen Routen unterwegs ist, das bedeutet | |
schwieriges, teilweise wegloses Gelände – die anspruchsvollste Stufe beim | |
Bergsteigen. Manchmal müsse sie dort ihren Hund hochziehen, der habe dafür | |
ein Geschirr. | |
Dann schlüpfe ich in meine Bergschuhe. Die Sonne ist untergegangen. Ich | |
blicke auf den Gletscher Mittelbergferner, die klaren Kanten der Berge, den | |
schimmernden Schnee. Ein Spiel aus Nebel und Abendrot. Covid-19 ist weit | |
weg. Es ist ein Leben im Hier und Jetzt. Nirgendwo anders fällt es mir so | |
leicht, mit allen Sinnen meine Umgebung wahrzunehmen und mich so lebendig | |
zu fühlen wie in der Natur. | |
Tag 5, Braunschweiger Hütte. Heute wähle ich die Route über das | |
Rettenbachjoch. Das bedeutet bergaufwandern, Grat entlangwandern und dann: | |
den Gletscher runterrutschen! Ich setze mich auf die Spur, stoße mich mit | |
meinen Händen ab, beschleunige. Schnee landet auf meiner Sonnenbrille, mein | |
Cape fliegt davon, ich bremse gerade noch rechtzeitig, um nicht in die | |
untenstehenden Wandrerinnen zu rutschen. Mein Herz klopft. Ich genieße das | |
Adrenalin. Erst später wird mir bewusst, dass meine Hose nass ist. Wir | |
erreichen den Parkplatz am Rettenbachgletscher. 30 Minuten später steigen | |
wir mit Schutzmasken in den Bus, der uns durch einen Tunnel zum | |
Tiefenbachferner bringt. Als alle drin sind, sehen wir Yusuf. Er rennt zum | |
Bus, die Türe schließt, Menschen klatschen. | |
Auf dem Panoramaweg ist erstmals viel los: geführte Gruppen, Paare, | |
Alleinwandernde, Familien. Ich kann nur erahnen, wie belaufen der E5 | |
normalerweise ist. Im Bergsteigerdorf Vent im hintersten Ötztal hat sich | |
ein Teil unserer Gruppe ein Hotel gebucht. Yusuf, Tal, Alice und ich müssen | |
zur nächsten Hütte. „Geht weiter“, sagt Yusuf, der in seinem Tempo gehen | |
möchte. Nach jeder Kurve geht es noch mal bergauf. Nach 30 Minuten hören | |
wir Motorengeräusche. Ein Fahrzeug mit kiloweise geladenem Holz. Wer sitzt | |
drin und winkt? Yusuf. Wir lachen, wandern weiter, dann steht Yusuf hinter | |
der nächsten Kurve: „Ich habe ihm geholfen.“ Er erklärt, dass der Mann | |
wegen des Holzes einen Gewichtsausgleich gebraucht habe, damit der Wagen | |
nicht aufsetzt. | |
Alice, Tal und ich erreichen erschöpft die Martin-Busch-Hütte. Yusuf wird | |
abgewiesen, weil er nicht reserviert hat. Er muss zur nächsten Hütte. | |
## Am Ort des Ötzi-Fundes | |
Das Bad in der Martin-Busch-Hütte ist voll. Ich warte vor der Tür und dehne | |
mich. Obwohl ich mir dabei beobachtet vorkomme, lege ich mich auf den Flur | |
und ziehe mein rechtes Bein über das linke, drehe meinen Oberkörper nach | |
rechts. Das tut gut. Eine Frau macht mit. Ich habe sie öfter gesehen und | |
erfahre jetzt, dass sie den E5 mit ihrer Schwester und ihren Kindern macht. | |
Abends trinken wir Bier mit den drei Männern mit Hut. Natürlich kennen sie | |
Yusuf. „Den DJ“ nennen sie ihn, ein Platz in ihrem Herzen habe er, | |
wiedersehen würden sie ihn gerne, überallhin würden sie dafür fahren. | |
Yusuf, der alles anders macht, hat eine Fan-Community bekommen. Sonst | |
wirken die AlpenüberquererInnen äußerlich homogen: Wanderführer, | |
Wanderrucksack, gutes Schuhwerk und Regenjacke mit den üblichen Marken. Die | |
meisten sind aus Deutschland, manche aus Österreich oder der Schweiz. Sehr | |
international ist es auf dem Weg, der durch drei Länder führt, nicht. Jetzt | |
sorgen sich die drei Männer mit Hut, ob der DJ in der nächsten Hütte gut | |
angekommen ist. Ich frage bei der Hütte nach, ob ein Yusuf da ist. „Der mit | |
den Tattoos?“, fragt die Frau am Telefon. | |
Tag 6, Martin-Busch-Hütte. Finale. Ich wandere über Schneefelder bergauf | |
und erreiche den höchsten Punkt meiner Route: das Tisenjoch auf 3.210 | |
Meter. Hier erinnert eine Steinpyramide an einen einzigartigen Fund. Erika | |
und Helmut Simon entdeckten die Gletschermumie Ötzi 1991. Der | |
Todeszeitpunkt des Mannes wird auf zwischen 3359 und 3105 v. Chr. bestimmt | |
– die Mumie ist rund 5.300 Jahre alt und damit die älteste bekannte | |
menschliche Mumie. Die Sonne scheint. Karge Berge führen runter zum | |
türkisfarbenen Stausee in Vernagt, hinter dem sich weitere Berge nach oben | |
ziehen, erst mit Bäumen, dann mit Schnee. Ich habe Herzklopfen, genieße | |
kurz die Sicht, denn mein Körper kühlt schnell ab, doch ich weiß: keine | |
Mail, keine Abgaben, die mir sonst wichtig erscheinen, könnten mir diese | |
innere Zufriedenheit geben – das Selbstvertrauen, dass ich alles schaffen | |
kann, und die Kraft, es umzusetzen. | |
Dann steige ich ab bis nach Vernagt. Ich bin nach Italien gelaufen! Mit dem | |
Bus fahre ich nach Meran am Fuß der Südtiroler Alpen. Die letzte Etappe | |
sind wir getrennt gelaufen, doch ich treffe „meine Gruppe“ zum Pizzaessen. | |
Yusuf zeigt Bilder von Frau und Tochter. Eine süße Familie. Es ist | |
spannend, alleine loszuziehen, und schön, gemeinsam anzukommen. | |
23 Nov 2020 | |
## AUTOREN | |
Luisa Willmann | |
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