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# taz.de -- Deutschland im Stubenarrest: Alle allein zuhaus?
> Beim Wandern an der Lahn vergisst man Covid-19 – hin und wieder
> zumindest. Stimmungsaufhellend wirkt das Draußensein aber jeden Fall.
Bild: Schön anzusehen, auch wenn man nirgends einkehren darf: Limburg an der L…
Seit die Übergänge von Lockdown zu Lockdown fließend geworden sind, haben
viele das Gefühl, dass ihnen die Zimmerdecke täglich näher kommt. Was kann
man aber tun, damit sie einem nicht vollends auf den Kopf fällt? Und vor
allem: Was darf man tun? Schließlich sind wir seit Monaten angehalten, das
Haus nur dann zu verlassen, wenn es wirklich nötig ist.
Am nötigsten ist es natürlich, sich zwischendurch auch mal frischen Wind um
die Nase wehen zu lassen! Der Ausbruch ist deshalb schnell geplant: Drei
Tage den ganzen Wahnsinn ausblenden und der Lahn entlang wandern! Natürlich
ohne Übernachtung. Rucksackträger sind zur Zeit ja auch dort nicht
willkommen, wo man sonst für jeden Gast dankbar ist. Also jeden Morgen mit
dem Auto hin und abends wieder zurück. Warum auf dem “Lahnwanderweg“? Ganz
einfach: Die Etappenorte liegen nicht nur am Fluss, sondern auch an der
Bahnlinie. So kommt man im Halbstundentakt zum Auto zurück und muss nicht
befürchten, irgendwo festzufrieren. Auch erspart man es sich, im Kreis zu
gehen, was ja nur an das Gefangensein in den eigenen vier Wänden erinnern
würde!
Schon auf der Hinfahrt kommt es zu einer erstaunlichen Stimmungsaufhellung:
Die Straßen sind herrlich leer, die Morgensonne verzaubert die noch in den
Talauen wabernden Nebelfelder, aus denen hie und da ein Kirchturm
herausschaut. Fast scheint es, als sei die Welt noch in Ordnung.
## Die Mundschutz Frage
Dass sie dies nicht ist, zeigt sich in der Limburger Altstadt, dem
Startpunkt der Etappe: Die meisten Leute sind mit Masken unterwegs – es
sieht aus, als sei die Bischofsstadt in der Hand von Bankräubern. Klar,
dass man verwundert ist und Genaueres wissen will – von den beiden
Menschen, die die Bäckereischlange bilden. “Besteht denn hier auch im
Freien eine Maskenpflicht?“ Ein wunder Punkt offenbar, denn sie schauen
sich erst mal fragend an.
„Nee, nee,“ sagt der Bauarbeiter in seinem schmutzigen Blaumann
schließlich, “nur in der Fußgängerzone.“ Seltsame Antwort, denn wir sind…
in der Fußgängerzone! Die junge Frau, die in gebührendem Abstand hinter ihm
wartet, weiß auch nicht mehr, erlöst ihren Vorredner aber aus der
peinlichen Lage: “Der Mundschutz hält doch angenehm warm bei der Kälte –
ich merke schon gar nicht mehr, dass ich ihn aufhabe.“ Von den Nebeln des
Lahntals ist man in die Nebel des Nichtwissens geraten!
Klare Verhältnisse herrschen erst hinter dem Kreiskrankenhaus, wo die
Wandermarkierung in den Wald zeigt. Niemand käme hier auf die Idee, mit
einer Maske herumzulaufen! Noch einmal flammt allerdings das schlechte
Gewissen auf: Ist es nicht unsolidarisch und verantwortungslos, einmal
richtig durchatmen zu wollen, während alle anderen den Atem anhalten und
ihre Lebensgeister im Keim ersticken?
Ein paar Schritte später hat die Magie des Gehens aber alle Bedenken
weggewischt, die Natur den Wanderer endgültig gefangen genommen. Die
Markierung ist eindeutig und das Waldstück schnell durchschritten. Der Weg
führt in eine weitläufige Auenlandschaft hinaus, in der nichts das Auge
stört: Weder Straße noch Bauwerk oder Hochspannungsleitung. Da ist es
wieder, das Freiheitsgefühl, das die Bewegung in der Natur so zuverlässig
verschafft! “Zu Hause eingeschlossen, würde ich elendiglich verkommen und
verdorren,“ schrieb Robert Walser. Wirklich lebendig fühlte sich der
Schriftsteller nur auf seinen Spaziergängen durch die Schweizer Bergwelt.
## Magie des Gehens
Im zweiten Teil der Etappe wird auch das Lahntal gebirgiger. Der Feldweg
hat sich in einen schmalen Steig verwandelt, der sich durch einen Felsen
durchsetzten Hochwald aufwärts schraubt. Auf der Höhe geht es dann von
einem Aussichtspunkt zum nächsten. Abwechselnd schaut man zum tief
eingeschnittenen Flussbett hinunter und lässt seinen Blick in die Ferne
schweifen – zu den in winterlichem Weiß erstrahlenden Höhenzügen des
Rothaargebirges. Auch der nächste Tag beginnt mit einem wilden und
rutschigen Aufstieg. Im 18. Jahrhundert hätte an dieser Stelle ein
richtiger Kreuzweg entstehen sollen. Realisiert wurde aber nur die letzte
Station, eine Naturhöhle, in der die Grablegung Christi nachgestellt wird.
Durch das Eisengitter sieht man die im Dunkel der Grotte aufgebahrte
Steinfigur, inmitten einer wilden Ansammlung von Plastikblumen. Zwei
Serpentinen weiter lockt ein verwitterter Wegweiser zur lebensgroßen
Nepomuk-Statue. Die Szenerie wirkt auch deshalb so gespenstisch, weil die
Sitzfläche der daneben stehenden Ruhebank mit einer dicken Moosschicht
überwachsen ist. Fast scheint es, als sei hier schon seit Jahren niemand
mehr heraufgekommen. Vielleicht geht es rund um den vergessenen Heiligen
auch nicht mit rechten Dingen zu. Auf eine gemütliche Sitzpause zu
verzichten, fällt jedenfalls nicht schwer. Wer möchte schon in eine
Moosgestalt verwandelt werden?
An ein Wunder grenzt es auch, wenn einem mal jemand entgegenkommt. Auf den
zwanzig Kilometern von Balduinstein nach Obernhof begegnen einem nur
insgesamt sechs Menschen – ein Mann, der seinen Hund zu erziehen versucht,
ein Ehepaar, das sich verlaufen zu haben scheint, und drei Rucksackträger
auf einer Sitzbank, die schnell auseinander rücken, als sie merken, dass
sich jemand nähert. Laurenburg, die einzige Siedlung unterwegs, wirkt so
ausgestorben, dass man die Suche nach einem 'Coffee to go’ aufgibt, bevor
sie richtig begonnen hat. Wo um Himmels willen sind eigentlich die ganzen
Menschen? Alle drinnen vor ihren Bildschirmen? Und wozu soll das gut sein?
## Bewegung ist systemrelevant
Auch eine Qualitätsroute, die mit behaglichen Wegeformaten punktet, bietet
die eine oder andere Durststrecke. Nach einem weiteren knackigen Anstieg
geht es eine gefühlte Stunde über einen trostlos breiten Forstweg, mitten
im Wald und ohne jede Aussicht. Die Folge ist eine innere Emigration, in
der das Hirn die Fragen durchzuarbeiten beginnt, die bisher nur punktuell
aufgetaucht waren: Ist nicht auch die Bewegung unter freiem Himmel
systemrelevant?
Krankt unsere Kultur nicht daran, das Wesentliche in den
Mensch-Mensch-Beziehungen zu suchen – und den Austausch mit der Natur für
nebensächlich zu betrachten? Das lustige Coronavideo der Bundesregierung
zeigt jedenfalls einen jungen Mann, der sich auf seinem Sofa heldenhaft zu
Tode langweilt – als ob es zum Herumsitzen im mentalen Home-Office keine
Alternative gäbe! Kein Zweifel, dass in einer Pandemie die
zwischenmenschlichen Kontakte reduziert werden müssen – aber warum werben
die Krisenmanager des Landes nicht zugleich für das Hinausgehen in Wald und
Flur – für die aktive Erholung in frischer Luft oder gar für Ausflüge aufs
Land, die die Rückkehr in den verordneten Stubenarrest erträglicher machen?
Im Autoradio war heute morgen zu hören, dass die Österreicher da etwas
klüger sind. Zwar gilt dort ein knallharter Lockdown, aber Erholung und
Sporttreiben zählen zu den zwingenden Gründen, das Haus verlassen zu
dürfen. Wer sich bewegen will, fährt also zum Langlaufen oder sogar ins
Skigebiet. Hierzulande sind hingegen alle Lifte geschlossen, die Parkplätze
aber trotzdem hoffnungslos verstopft. Während die Menschen immer noch
gemeinsam in Büroetagen und Fertigungshallen arbeiten dürfen, erklärt man
die Ausflugsziele zu Sperrgebieten und lässt die Rodelhänge von der Polizei
räumen. Völlig absurd, denn die Leute wollen und müssen nun mal raus und
werden sich nicht den ganzen Winter gefangen halten lassen.
Wirklich dumm ist aber, dass sie alle an die gleichen Orte fahren. An der
Lahn wäre genug Bewegungsspielraum und überall sind gähnend leere
Parkplätze. Und das, obwohl es Sonntag ist und es über Nacht auch hier ein
paar Zentimeter geschneit hat. So führt die letzte, in Bad Ems endende
Etappe, durch eine weiße Märchenlandschaft, die einen völlig begeistert.
Auch deshalb begeistert, weil man sich nicht einmal mehr vor den
Moosgeistern fürchten muss.
14 Mar 2021
## AUTOREN
Gerhard Fitzthum
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