# taz.de -- Bergwandertour auf Korsika: Eine fröhliche Tortour | |
> Verreisen, um zu wandern, war früher noch nicht populär. Und die | |
> Infrastruktur unterwegs dürftig. Erinnerung an die große | |
> Korsika-Durchquerung 1985. | |
Bild: Wanderschuhe, Schweine und vieles mehr: So was das damals 1985 auf Korsika | |
Zum Auftakt der ersten richtig langen Wanderung meines Lebens liege ich in | |
München hilflos auf dem Bahnsteig. Und zwar am legendären Gleis 11; von | |
dort fahren die Züge über den Brenner nach Italien. Wir sind zu viert und | |
wollen nach Livorno, von dort weiter mit der Fähre nach Korsika. Einer | |
dieser Rumpelzüge fährt ein, einige Fenster sind aufgeschoben. Die Zugtüre | |
schwingt auf, ich will einsteigen, hebe ein Bein an – und falle rückwarts | |
auf den Bahnsteig. Ich liege da wie Gregor Samsa, wie ein unbeholfener | |
Käfer. Es fehlt nicht viel, und die anderen drei lägen neben mir. Vor | |
Lachen. | |
Der Grund ist mein schwerer Rucksack, der mich nach hintüber zog. Der Grund | |
für das Gelächter ist nicht Schadenfreude, sondern Lebensfreude und hohe | |
Lachbereitschaft. Wenn man jung ist, lacht man eben laut und viel über | |
alles. Ich rolle auf den Bauch, Katja hilft mir beim Aufstehen. Mit | |
Lachtränen im Gesicht schaffen wir es schließlich in den Zug, in unser | |
Abteil mit den braunen Plastikpolsterungen. | |
August 1985. Wir sind aufgebrochen, um den GR 20 zu erwandern, die große | |
Korsikadurchquerung, 180 Kilometer bergauf, bergab. Es war Katjas Idee | |
gewesen. Wir waren beide Mitte 20, studierten in München, lernten uns beim | |
Kletterkurs im „Olyzentrum“ kennen. Katjas Freund kletterte schon länger, | |
einmal fuhren wir zu einer gemeinsamen Kletterei am Guffert, ich glaube in | |
die Alte Südverschneidung. Katjas Freund stieg vor, übernahm also den | |
schweren Part, Katja und ich stiegen nach, wie das im Jargon heißt. | |
Während der Freund weiterstieg, standen wir zwei in der senkrechten | |
Felswand, immer gut am Seil, und sicherten ihn. Da fragte mich Katja, ob | |
ich mitfahren wolle nach Korsika, zur Grande Randonnée 20. Sie plane mit | |
ihrem Freund diese zweiwöchige [1][Trekkingtour] quer über die Insel, mit | |
Rucksack und Schlafsack. Ich sagte sofort ja. Wir waren Studentinnen, | |
spontan, neuen Menschen gegenüber offen. | |
## Völlig unbeschwert | |
Zu dritt loszuziehen finden wir nicht so prickelnd. Ich bin aber gerade | |
Single. Also hängen wir an der Uni einen Zettel ans Schwarze Brett, so | |
machte man das in analogen Zeiten: „Mitwanderer gesucht.“ Harald meldet | |
sich, sein Nachname will mir einfach nicht mehr einfallen. Wir treffen uns | |
erst zu viert auf ein Bier, und bald danach in einem Miniapartment im | |
Olyzentrum, dem Studentenwohnheim in den ehemaligen Athletenwohnungen der | |
Olympischen Spiele von 1972. Wir haben Berge von Verpflegung eingekauft und | |
teilen diese gerecht auf. | |
Daran ist nun im Nachhinein zweierlei bemerkenswert. Zum einen diese | |
Unbeschwertheit, eine durchaus anstrengende Tour mit fast fremden Menschen | |
zu machen. Katja und ich kannten uns auch erst ein paar Wochen, ihren | |
Freund hatte ich über sie beim Klettern kennen gelernt. Und Harald kannten | |
wir noch gar nicht. Es fiel uns nicht einmal auf, dass das etwas Besonderes | |
war. Damals trugen wir schwere Rucksäcke, heute sind wir Bedenkenträger. | |
Thunfisch, Nudeln, Metersalami vom Aldi, Milchpulver, Instantkaffee, Müsli | |
und natürlich Schokolade, alles dabei. Wir verteilten es zu gleichen Teilen | |
auf unsere Rucksäcke. Das kann geradezu philosophische Fragen nach | |
Gerechtigkeit aufwerfen. Ja, die Rucksäcke waren gleich schwer, rund 20 | |
Kilogramm. Nur war das bei mir eben fast die Hälfte meines eigenen | |
Gewichts, bei den Jungs eher nur ein Viertel. Immerhin beschlossen wir, | |
möglicherweise nach meinem Sturz auf dem Bahnsteig, erst die Rucksäcke der | |
Frauen leer zu futtern. | |
Korsika also. 1969 wurde der Parc Naturel Regional de Corse ausgerufen, | |
diesen kann man mit einem Wanderweg erforschen. Die Tagesetappen betragen | |
etwa acht Stunden, es geht rauf und runter, Korsika ist ein Gebirge im | |
Meer. Am Ende jeden Tages warten Selbstversorgerhütten, dort kann man | |
kochen, essen, schlafen; zu kaufen gibt es nichts. Zelte dürfte man nur | |
direkt bei der Hütte aufbauen. Wir haben Isomatten und Schlafsäcke dabei, | |
damit kann man sich an den Biwakplätzen der Grande Randonnée, die in den | |
Wanderführern erwähnt sind, auch mal hinlegen. | |
## Neonfarbene Stirnbänder | |
Zu verreisen, um zu [2][wandern], war damals noch nicht populär. Man hatte | |
ja die Alpen vor der Nase. Eigentlich war nicht einmal wandern populär. Es | |
war vom Luis-Trenker-Image geprägt, man trug rot-weiß-karierte Hemden. Erst | |
mit dem Kletterern begann das Image des Draußenseins in den Bergen sich zu | |
ändern. | |
Freaks kletterten nun in schrill pinken und gemusterten Leggins. Wir trugen | |
bei unserer Wanderung immerhin neonfarbene Stirnbänder. Doch der Trend des | |
Inselwanderns kam erst viel später auf. Auch Trekkingreisen in weite Ferne | |
waren noch rar und das Fliegen war viel zu teuer. Ich reiste nur in Europa, | |
fuhr nach Griechenland, Italien. Erst Anfang der 90er Jahre begab ich mich | |
mit einem Trip durch den Südwesten der USA auf weltweite Reisen. | |
Sechshundert Höhenmeter gleich am ersten Tag, ein harter Einstieg in unsere | |
korsische Wanderung. Trainiert haben wir vorher nicht. Wir sind jung, | |
leidlich sportlich. Geht scho, ist die Devise. Ich sehe auf den Fotos aus | |
wie eine Marketenderin. In meinen relativ kleinen Rucksack passt nicht | |
alles rein, so baumelt außen ein Teil der Ausrüstung. Die anderen haben | |
knallorangefarbene Kraxen mit außenliegendem Tragegestell aus Leichtmetall. | |
Die beiden Männer wollen ständig Skat spielen, im Zug, auf den Hütten, im | |
Zelt. Ich lerne Skat, Katja liest Stendhals „Die Kartause von Parma“. Das | |
Buch mochte ich überhaupt nicht, bis heute nicht. Sie war eben frankophil, | |
ich italophil. Auf und ab, jeden Tag. Immer kurz bevor es uns langweilig | |
wird, stellt Katjas Freund eine Denksportaufgabe. So haben wir etwas zum | |
Draufherumdenken. Natürlich müssen wir hinauf auf den Monte Cinto, mit | |
2.710 Metern der höchste Berg Korsikas, auch wenn er etwas abseits der | |
Route liegt. Monte Schinder wird er auch genannt. | |
## Unerwartete Herausforderungen | |
Eintausenddreihundert Höhenmeter Anstieg, mit dem ganzen Gepäck, wir haben | |
die Wahl zwischen steilen Geröllhalden und schier undurchdringlichem | |
Erlengebüsch, wahrlich eine Schinderei. Wir schlagen uns in die Büsche, das | |
ist weniger anstrengend als die Schutthalden, auf denen man immer wieder | |
zurückrutscht. Der Gipfelblick entschädigt kurz für alles, man sieht sogar | |
das Meer. Und da schleichen sich Fragen ein: Warum liege ich eigentlich | |
nicht am Strand, mit einem Restaurant in der Nähe? Sondern schleppe hier | |
für eine Woche Essen über die Berge? Aber wer geht schon wandern, um es | |
leicht zu haben. | |
Vom Gipfel sieht man auch die schwarzen Wolken, die aufziehen. Wir hasten | |
hinunter, richten uns ein Notbiwak am Cintosee auf über 2.000 Meter Höhe | |
ein. Im Sturm breiten wir Isomatten, Schlafsäcke und Biwaksäcke aus; | |
geschützt hinter von Vorgängern provisorisch aufgetürmten Mäuerchen aus | |
Schottersteinen. Eisig kalt wird es. | |
Zwei Jahre zuvor sind durch einen Temperatursturz an Pfingsten zwei | |
Wanderer unweit einer Hütte erfroren. Bestens ausgerüstet, haben sie es | |
dennoch nicht geschafft. An einer anderen Stelle stoßen wir auf eine Tafel. | |
Sie erinnert an italienische Wanderer, die bei einem Waldbrand ums Leben | |
kamen. Davon haben wir gelesen – auch wenn es noch kein Internet gab. | |
Wir haben Respekt vor der Tour. Wir liegen in den Biwaksäcken, nur noch die | |
Nasen schauen raus. Drinnen wird es trotzdem feucht, Kondenswasser staut | |
sich in den regendichten Hüllen. Dann fängt es auch noch an zu gewittern! | |
Liegen wir zu nahe am See? Zu nahe am Berg? Himmel, die Rucksäcke! Einer | |
springt auf, bringt tapfer rennend die Rucksäcke mit den Metallstangen weit | |
weg von unserem Lager. | |
Dann gehen uns die Vorräte aus. Wir hatten nicht damit gerechnet, solche | |
Mengen von Nudeln mit Thunfisch und Thunfisch mit Nudeln zu verschlingen. | |
An einer Bergerie kaufen wir Brot mit korsischem Ziegenkäse. An einem | |
Straßenpass trampen wir nach Calacuccia zum Einkaufen – und danach wieder | |
an dieselbe Stelle zurück, Ehrensache. Auf dem Rückweg nimmt uns ein | |
Schweinetransporter mit. Die Fahrt ist kurz und furchtbar. | |
## Im Schweinetransporter | |
Der Korse rast über die Feldwege, wir halten uns hinten im geschlossenen | |
Transporter an Stangen fest, neben uns die Schweine, die vor Angst kotzen. | |
Wir sehen ein unrühmliches Ende vor uns. Vier Deutsche auf Korsika im | |
Schweinetransporter in eine Schlucht gestürzt. Der Großteil der Wanderer, | |
die wir unterwegs treffen, sind Deutsche. | |
Es dunkelt bereits, als eines Abends auf einem Grat Taschenlampen | |
aufflackern. Wir stehen auf der Terrasse der Uscioluhütte, ein | |
Einheimischer ruft auf Französisch, dass die lange Erwarteten falsch gehen. | |
Mit einer starken Lampe macht er sich auf den Weg, um die Verirrten | |
abzuholen. Währenddessen schallt es laut durch das ruhige Tal: „Thomas! | |
Schtanda bleiba! Schtanda bleiba!“ Noch Jahre später haben wir das | |
zitiert und uns schlapp gelacht. Wie gesagt: hohe Lachbereitschaft. Wir | |
baden in Bächen mit eiskaltem Wasser. Meistens ist die Landschaft aber karg | |
und trocken, manche Quelle ist versiegt, wir müssen das Wasser mit | |
Kaliumpermanganat desinfizieren. | |
Genau betrachtet war die Wanderung eine Tortur. Im August auf einer | |
Mittelmeerinsel zu wandern, was für eine Schnapsidee. Aber großartig war es | |
eben auch. Einmal sitze ich heulend auf einem Stein. Ich bin fertig mit der | |
Welt. Katja drückt mir ein Mars in die Hand. Von ihrer Ration. Es fühlt | |
sich an, als hätte sie mir das Leben gerettet. | |
Nun gut, zu Drama neigten wir eben auch. Man konnte da einiges lernen, vor | |
allem über sich selbst in Höhen und Tiefen. Wie hilfsbereit, höflich und | |
gerecht bin ich noch in extremen Situationen? So eine Tour kann | |
zusammenschweißen, kann aber auch eine Beziehung killen. Für mich begann | |
auf dieser Wanderung eine Freundschaft, die mich über zwanzig Jahre lang | |
bewegen sollte. | |
Am letzten Tag noch, ganz klassisch, unterläuft uns ein Verhauer. Wir | |
freuen uns aufs Ende, aufs [3][Meer], achten nicht auf die Markierungen – | |
und landen im Erlengebüsch, in mediterraner Macchia. Das schaffen wir nun | |
auch noch. Zerschrammt an Armen und Beinen, verschwitzt und überglücklich | |
sind wir endlich am Ziel. Glücklich, es geschafft zu haben, und auch ein | |
bisschen darüber, es hinter uns zu haben. | |
Die Reise war genial. Natürlich auch in der romantischen Rückschau, those | |
were the days, my friend. Wir waren jung und das Leben konnte sich oft sehr | |
leicht anfühlen. Vielleicht ist das etwas, das das Älterwerden bringt: Die | |
Leichtigkeit verflüchtigt sich. Nicht dauerhaft, aber sie fliegt einem | |
nicht mehr so zu. | |
## Weiter gut zu Fuß | |
Das Wandern ist mir geblieben. Immer wieder gehe ich lange Strecken zu Fuß. | |
An guten Tagen und an schlechten Tagen. Ich habe mehrtägige Wanderungen | |
gemacht, oft aus Jux und Tollerei. So bin ich einmal von Berlin aus von der | |
Haustüre weg an die Ostsee spaziert. Ich habe eine Ausbildung zur Tiroler | |
Bergwanderführerin absolviert und führe Gruppen in den piemontesischen | |
Bergen. | |
Ich versuche, ihnen außer Kultur und Geschichte auch die Freude am Wandern | |
zu vermitteln. Und ich bin in diesen lausigen Coronazeiten jeden verdammten | |
Tag vor die Tür gegangen, um mindestens spazieren zu gehen. Und einmal bin | |
ich zur Trauerbewältigung die längste Wanderung meines Lebens gegangen. Von | |
Berlin bis in die Alpen, zum Hohen Dachstein. Denn dort war Katja vor nun | |
schon 13 Jahren beim Skitourengehen tödlich verunglückt. | |
Zu Fuß zu gehen kann heilen, kann helfen. Aber es kann auch einfach | |
unbändig viel Spaß machen. So wie damals auf Korsika. Natürlich gab es da | |
auch unschöne und sehr anstrengende Stunden. Der schwierigste Moment aber | |
war nicht jene Tour auf den Monte Schinder. Am schwierigsten war der Abend | |
in Vizzavona. | |
In Vizzavona zeigt sich, wer ein wahrer Wanderer ist. Nur in Vizzavona, in | |
der Mitte der Insel, auf der Hälfte des Weges, kann Nachschub gekauft | |
werden. In Vizzavona gab es genau einen Laden, das Restaurant von Madame | |
Tho. Und einen Bahnhof. Wir streiken. Das Wandern ist schön, ja. Aber was | |
für eine Schinderei, die Rucksäcke so schwer. In Vizzavona kann man nicht | |
nur Essen nachkaufen, sondern auch eine Zugfahrkarte. Ans Meer. | |
Ich erinnere mich, wie wir da saßen, Essen bestellen konnten, ohne selbst | |
kochen zu müssen, Rotwein tranken und debattierten. Katja sagte: „Überlegt | |
doch. Die meisten brechen hier ab. Aber wenn wir die Tour zu Ende machen, | |
wie toll das wird!“ Und sie sagte noch: „Ihr werdet mir dankbar sein, eines | |
Tages, wenn wir den GR 20 ganz gehen.“ Natürlich gingen wir weiter. Und | |
natürlich hatte sie Recht. Ich erzähle es ja noch heute mit Stolz. | |
21 Mar 2021 | |
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Barbara Schaefer | |
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