# taz.de -- Gletscher in Tirol: Graugesichtiger Nacktmull | |
> Das soll ein Gletscher sein? Was einst ein weißer Riese war, ist heute | |
> nur noch ein Schatten seiner selbst. | |
Bild: Dahinschmelzender Rest: Gletscher in den Ötztaler Alpen | |
BERLIN taz | Mein Sohn war nicht so beeindruckt: „Das soll ein Gletscher | |
sein?“, fragte er nach vier Stunden Aufstieg. Wir standen vor der | |
Braunschweiger Hütte in Tirol, hatten gerade 1.000 Höhenmeter in den Beinen | |
und ein großes graues, steiniges, schrundiges Etwas vor uns. „Doch, doch“, | |
sagte ich und zeigte auf den Ötztaler Gletscher und seine Umgebung. „Das | |
ist ein Riesending.“ | |
Ich dagegen war ein bisschen sprachlos. So wie das ist, wenn man mal wieder | |
die Realität dessen sieht, was sich sonst hinter Konferenzen, Gutachten, | |
Strategien, Warnungen und Routine versteckt: Klimawandel zum Anfassen, auf | |
2.759 Metern. Vor 19 Jahren, als der junge Mann neben mir noch ein | |
entfernter Gedanke war, hatte ich schon mal hier gestanden. Aber da war der | |
Eisfluss vor mir noch ein weißer Riese gewesen und nicht dieser | |
graugesichtige Nacktmull, dessen schlammiger Abfluss in einem großen | |
Wasserfall ins Tal donnerte. | |
Im Corona-Urlaub waren wir kurz entschlossen aufgebrochen: Wir liefen durch | |
die Ferne (Fernwanderweg E5 Oberstdorf bis Sölden), aber mehr so „unter | |
ferner liefen“. Mit Sack und Pack hoch auf die Scharten, runter in die | |
Täler. Ich wunderte mich darüber, welche Strecken wir früher so klaglos | |
marschiert waren und welche Strecken unsere Kinder heute so klaglos | |
marschierten. Der Weg war immer noch toll, der Rucksack immer noch zu | |
schwer, das Wetter viel besser als 2001 und das tägliche Bad im Fluss eine | |
Wohltat. | |
Aber aus manchen einsamen, wilden Tälern war ein Abenteuerspielplatz für | |
Tageskletterer geworden, aus verschlafenen Dörfern Touristenhotspots mit | |
Vollversorgung. Wandergruppen mit Tourguide ließen ihr Gepäck mit der | |
Materialseilbahn auf die Hütten schweben, die alten Schummler (wir durften | |
nur einmal mitschummeln). Damals war das eine einsame Gegend. Heute gondeln | |
Leute hier hoch, die ihre Hunde mitnehmen, und auf einer Schotterpiste kam | |
uns ein Lkw entgegen. Damals hatten wir uns im Schneetreiben auf dem | |
Gletscher verirrt. Heute lag er weit neben unserem Weg. | |
## Das tägliche Klima-9/11 | |
Damals waren die beiden Kinder, die uns nun mit langen Schritten | |
voranliefen, noch bloß zwei Möglichkeiten unter vielen. Auf dem Rückweg | |
sahen wir 2001 im Fernsehen an 9/11 die Twin Towers in New York | |
zusammenfallen. Am nächsten Tag war die Welt eine andere. | |
Damals war auch der heutige Klimawandel noch nur eine Möglichkeit unter | |
vielen. Und die Welt ist heute eine andere, auch ohne ein spektakuläres | |
Klima-9/11. Oder besser: Jeder Tag ist heute 9/11. Wir blickten vor der | |
Braunschweiger Hütte auf das angeblich ewige Eis: einen von unzähligen | |
Ground Zeros. | |
Schon damals hatte ich mich über das eigensinnige Österreicherisch gefreut: | |
Fauscheln heißt klauen, beflegeln bedeutet anpöbeln und Paradeiser sind | |
Tomaten. Heute lernte ich: Gletscher heißen hier Ferner. Vor uns lag der | |
Mittelbergferner. Ich dachte an Hitzerekorde, CO2-Emissionen und dieses | |
schwitzende, tropfende, rauschende Eisgebirge und verstand: Ferner liefen. | |
14 Aug 2020 | |
## AUTOREN | |
Bernhard Pötter | |
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