# taz.de -- Überleben im Lockdown-November: Mit Sex, Zucker und Alkohol | |
> Der Winter in Berlin ist schlimm, jetzt kommt der Shutdown dazu. Vier | |
> Skandinavier*innen geben Tipps, um gut durch die kalte Jahreszeit zu | |
> kommen. | |
Bild: Brrr! Berlin in dunklen Zeiten | |
Er ist ein fester Bestandteil ihres Lebens, und doch werden die meisten | |
Berliner*innen einfach nicht warm mit ihm: der Winter. Das Schlimmste an | |
ihm ist, dass er sich nicht langsam anbahnt, sondern ohne jede Ankündigung | |
über einen hereinbricht. Während man abends noch in T-Shirt auf der | |
Admiralbrücke cornert und der Straßenmusik lauscht, braucht man am nächsten | |
Tag plötzlich Handschuhe. Und ist der Winter einmal da, und das ist das | |
Zweitschlimmste an ihm, will er einfach nicht mehr enden. | |
Von November bis April zeigt sich die Sonne in Berlin gefühlt nie, es ist | |
immerzu grau, grau grau. Hinzu kommt der kalte Ostwind, der einem | |
entgegenpeitscht, sobald man die U-Bahn-Station verlässt. (Schnee, das | |
Einzige, was dem Winter vielleicht ein bisschen Romantik verleiht, fällt in | |
der Hauptstadt schon lange nicht mehr). | |
Und als wäre das nicht genug, kann man sich wegen der Pandemie derzeit | |
nicht mal mit einem großen Stück Apfelkuchen [1][im Stammcafé trösten oder | |
ins Kino gehen]. Ganz ehrlich: Wie soll man die Wintermonate so überstehen? | |
Kristian Moldskred ist Experte auf dem Gebiet Winter. Aufgewachsen in | |
Haddal, einem 700-Einwohner-Dorf an der Westküste Norwegens, kennt er sich | |
aus mit lang währender Dunkelheit und Minusgraden. Die Sonne geht dort im | |
Dezember teilweise um 10 Uhr auf und um 15 Uhr wieder unter. „Der Winter | |
ist für mich nicht etwas, das man erträgt, sondern etwas, das man genießt“, | |
sagt der 41-Jährige mit norwegischem Akzent. | |
Vor zehn Jahren ist Moldskred nach Berlin gezogen, kurz danach hat er die | |
„Oslo Kaffebar“ nahe beim Nordbahnhof eröffnet. Es ist ein schlichtes Caf�… | |
minimalistisch eingerichtet, Wände und Tresen sind aus unbearbeitetem | |
Naturholz. | |
Moldskred sitzt in Holzfällerhemd auf einem Hocker, sein braunes Haar hat | |
er zu einem Dutt gebunden. „Ich liebe es, wenn es draußen kalt und finster | |
ist und es sich schon nachmittags anfühlt wie Abend“ sagt Moldskred und | |
lächelt. Wieso? „Weil die Stimmung dann so koselig ist, das ist das | |
norwegische Wort für gemütlich.“ | |
Moldskred beschreibt sich selbst als jemanden, der „wie für den Winter | |
gemacht ist“. Er verbringt gern Zeit in seiner Friedrichshainer Wohnung und | |
ist glücklich, wenn er samstagabends auf der Couch ein Buch liest. Was aber | |
rät er jenen Berliner*innen, die nicht so wintervernarrt sind wie er und | |
Dunkelheit nicht gemütlich finden, sondern deprimierend und ermüdend? | |
Erstens sei es wichtig, nicht nur in der Wohnung zu hocken, sagt Moldskred. | |
Er selbst mache einmal am Tag einen großen Spaziergang mit seinem | |
Foxterrier – egal wie ungemütlich es draußen ist. „Wenn es richtig kalt | |
ist, ziehe ich Skiunterwäsche drunter“, sagt er. | |
Zweitens empfiehlt Moldskred, sich ein erfüllendes und bestenfalls | |
zeitaufwendiges Hobby zu suchen – vor allem jetzt, wo Clubs, Theater und | |
Museen wegen des Coronavirus geschlossen sind und man sich nur mit einem | |
einzigen weiteren Haushalt treffen darf. „Ich sortiere gerade meine 700 | |
Schallplatten, Freunde von mir in Norwegen renovieren den Winter über ihr | |
Haus“, sagt Moldskred. Weitere Vorschläge: Gitarrespielen lernen, Tolstois | |
„Krieg und Frieden“ lesen oder alle vier Staffeln der skandinavischen | |
Krimiserie „Die Brücke“ anschauen. | |
Am wichtigsten ist Moldskred zufolge aber „comfort food“, Trostessen. | |
„Besonders gern mag ich frisch gebackene Waffeln oder die Svele meiner | |
Mutter“ – eine Art Pfannkuchen, die man mit Butter und Zucker isst, vor | |
allem an der Westküste Norwegens. | |
Genauso wie Moldskred ist auch Kerstin Nilsson mit dunklen Wintern groß | |
geworden. In ihrer Heimatstadt Uppsala in Schweden ist es im Winter | |
manchmal schon um 15 Uhr stockduster, die Temperaturen liegen meist knapp | |
unter null Grad. | |
Dass viele Berliner*innen den Winter nicht mögen und wie verrückt auf den | |
Frühling hinfiebern, kann die 30-Jährige verstehen. „In Schweden liegt oft | |
Schnee, und es scheint die Sonne, hier hingegen ist es monatelang grau und | |
nass“, sagt Nilsson, die seit sechs Jahren in Berlin lebt und als Köchin in | |
der schwedischen Kirchengemeinde in Wilmersdorf arbeitet. | |
Ihre Strategie, um durch den Winter zu kommen: so viel Zeit mit | |
Freund*innen verbringen wie möglich – auch wenn das wegen der Pandemie | |
derzeit nur digital geht. „Neulich haben wir bei Zoom ein Quiz mit 30 | |
Leuten organisiert, heute Abend treffe ich mich dort mit Freund*innen zum | |
Weintrinken“, sagt die Schwedin. | |
## Online gemeinsam Kochen | |
Auch den Geburtstag ihrer Mutter werden Nilsson und ihrer Familie online | |
feiern. „Wir kochen alle dasselbe 3-Gänge-Menü und essen gemeinsam vor dem | |
Bildschirm“, sagt sie. Als Vorspeise gebe es ihr Lieblingsgericht: Toast | |
mit Garnelen, Sauerrahm, Zwiebeln und frischem Dill. | |
Ohnehin empfiehlt Nilsson, in den Wintermonaten viel zu kochen und zu | |
backen. „Im Sommer steht man nicht gern in der Küche, sondern will einfach | |
nur in den See springen.“ Im Winter jedoch habe man Zeit und Ruhe, neue | |
oder aufwendige Rezepte auszuprobieren, sagt sie und überreicht eine warme, | |
selbst gebackene Zimtschnecke. Ihr Tipp dazu: Jede Woche ein Gericht | |
kochen, das man noch nie gemacht hat. | |
Während es in Ulsteinvik und Uppsala im Winter zum Teil nur fünf Stunden am | |
Tag hell ist, geht die Sonne in der Heimat von Pauli Orava zwei Monate erst | |
gar nicht auf. Der 31-Jährige kommt aus dem Norden Finnlands, aus Ivalo in | |
Lappland. Die Polarnacht dauert hier von Mitte November bis Mitte Januar. | |
In dieser Zeit ist es Tag und Nacht dunkel, nur manchmal blinzelt die Sonne | |
rötlich unter dem Horizont hervor. | |
Wie schafft es Orava, so lange Dunkelperioden psychisch zu überstehen? | |
„Indem ich die Natur so annehme, wie sie ist“, sagt er am Telefon. „Und i… | |
akzeptiere, dass ich im Winter nicht so viel Energie habe wie im Sommer.“ | |
Während des Gesprächs unterstreicht Orava mehrmals, wie wichtig es sei, | |
sich während der dunklen Jahreszeit zu erlauben, auch mal unproduktiv zu | |
sein und zum Beispiel einen ganzen Sonntag im Bett zu verbringen. Dann sagt | |
er: „Im Sommer haben wir Finnen vor allem Sex, Schlafen und Angeln. Im | |
Winter angeln wir nicht so viel.“ | |
Der Finne Oskari Lampisjärvi, 37, betont ebenfalls, dass man es sich im | |
Winter gut gehen lassen soll. Er rät zu Kalsarikännit. Direkt übersetzt | |
bedeutet das „Unterwäsche-Rausch“. „Gemeint ist damit, dass man sich all… | |
zu Hause in langer Unterwäsche betrinkt“, sagt Lampisjärvi. Während des | |
Teil-Lockdowns habe er das in seiner Wohnung in Neukölln schon mehrmals | |
gemacht. „Mit einem leichten Schwips macht Fernsehen gleich doppelt so viel | |
Spaß“, sagt er. | |
Letztlich, und da sind sich die Skandinavier*innen einig, müsse man eine | |
positive Einstellung zum Winter entwickeln, sonst bringe auch die süßeste | |
Zimtschnecke oder der lustigste Weinabend bei Zoom nichts. „Es gibt vieles, | |
an dem man sich im Winter erfreuen kann“, sagt Moldskred. Mit der dunklen | |
Jahreszeit beginne zum Beispiel die Zeit des indirekten, warmen Lichts. Und | |
wann, fragt Nilsson, schmecke eine heiße Schokolade so gut wie | |
durchgefroren nach einem Spaziergang am Landwehrkanal? | |
13 Nov 2020 | |
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## AUTOREN | |
Rieke Wiemann | |
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