| # taz.de -- Historiker über italienische Thriller: „Ein dekoratives Genre“ | |
| > Filmhistoriker Christian Keßler erklärt die Prinzipien des italienischen | |
| > Thrillers, seine Verworrenheit und häufig zelebrierte Gewalt gegen | |
| > Frauen. | |
| Bild: Artifizielle Gewalt: Szene aus „Das Geheimnis der Schwarzen Handschuhe�… | |
| taz: Herr Keßler, Ihr Buch „Gelb wie die Nacht“ versammelt Texte zum | |
| italienischen Thriller-Kino, dem sogenannten Giallo, von den | |
| Sechzigerjahren bis heute. Warum gerade der italienische Thriller und nicht | |
| etwa der schwedische oder der englische? | |
| Christian Keßler: Ich hab mich schon immer sehr für das italienische Kino | |
| erwärmen können. Das begann beim italienischen Horrorfilm, dann die | |
| Western, dann auch Kriminalfilme. Nebenbei hab ich die ganzen | |
| Kunstfilmgeschichten, Pasolini, Fellini, Visconti, aufgerollt und mich dann | |
| bis zum Stummfilm zurückgearbeitet. Das war eine Liebesbeziehung, die mich | |
| sicherlich zehn Jahre meines Lebens begleitet hat. | |
| Und warum speziell der Giallo? | |
| Aufgewachsen bin ich natürlich mit dem angelsächsischen Thriller, | |
| Polizeikrimis oder so etwas wie Agatha Christie. Diese Filme gehen von | |
| einer Normalität aus, die durch einen Mord in Unordnung gerät, und dann | |
| kommt der Kommissar und bringt das wieder in Ordnung. Am Schluss können | |
| dann alle beruhigt aus dem Kino gehen. Im Giallo existiert diese Normalität | |
| nicht. Alles befindet sich im ständigen Chaos, und der Ordnungshüter kann | |
| im Grunde nicht mehr machen, als so ein bisschen daran herumfummeln. Der | |
| Eindruck nach Filmende ist der eines bunten permanenten Ausnahmezustands, | |
| den der Giallo sehr pittoresk filmisch umsetzt. Die Regisseure arbeiten mit | |
| vielen visuellen Kapriolen und Kabinettstückchen. | |
| Dieses Chaos korrespondiert mit dem Eindruck, dass die Plots oft verworren | |
| sind. Ist das Absicht? | |
| Verworrenheit ist jedenfalls nicht notwendig ein Anzeichen dafür, dass es | |
| sich um einen schlechten Film handelt. Gerade in den besten Gialli passiert | |
| es, dass die Auflösung am Schluss eher so ein bisschen pflichtschuldig | |
| hingeschludert wird. Im Zentrum stehen eher die set pieces – aufwändig | |
| gestaltete Spannungssequenzen, die aber nicht von unserer Alltagslogik | |
| bestimmt sind, sondern von einer alptraumhaften. Deswegen sind diese Bilder | |
| formal häufig sehr grell gestaltet, mit Farbenspielen, mit Schatten, die | |
| auf Wände projiziert werden, mit besonders knalliger Musik. Das Innenleben | |
| der aufgewühlten Figuren wird nach außen projiziert. Der Spektakelreiz | |
| dieser Filme ist ausgeprägt. | |
| Was einem schon bei den stilbildenden Klassikern von Dario Argento und | |
| Mario Bava entgegen springt, sind Bilder einer exzessiven, genussvoll | |
| inszenierten Gewalt gegen Frauen. Wie geht man als Fan damit um? | |
| Das hängt davon ab, wie gut man es mit dem jeweiligen Regisseur meint. In | |
| der Fachliteratur wird das widersprüchlich beschrieben: Entweder es handelt | |
| sich um ein Schwelgen in niedersten Instinkten oder um eine Thematisierung | |
| der Angst der Männer vor den Frauen. Die Misogynie ist ja erst einmal die | |
| Misogynie des Killers, des Bösen also. Gleichzeitig ist das Spektakel | |
| schöner Frauen, die durch dunkle Korridore gehetzt werden, ein | |
| Attraktionspunkt des Giallo. Deswegen ist das ein zweischneidiges Schwert. | |
| Wie auch beim Antikriegsfilm, der häufig damit zu kämpfen hat, dass das, | |
| was die Leute sehen wollen, das Spektakel ist. Und das Spektakel sind in | |
| dem Falle eben die Kriegsszenen. | |
| Zugleich wirkt auch die Gewalt im Giallo häufig ausgesprochen artifiziell. | |
| Ja, die Artifizialität ist ein zentraler Punkt. Der Giallo ist ein sehr | |
| dekoratives Genre. Was für mich die amerikanischen Filme häufig schwerer zu | |
| schlucken macht. Aber es gibt tatsächlich Gialli, die die Gewalt gegen | |
| Frauen nur noch auswalzen. | |
| Über 250 Filme haben Sie für das Buch gesichtet. Wie hoch ist denn die | |
| Gurkenquote Ihrer Erfahrung nach? | |
| Ich würde sagen, die ist etwa ähnlich hoch wie im Falle des Italo-Westerns. | |
| Da gibt es ebenfalls einige ausgemachte Meisterwerke. Das sind meistens | |
| Filme von Regisseuren, die eine Agenda haben, die also versuchen, ihre | |
| eigenen Ideen über das Genre zu vermitteln. Es gab in den Siebzigerjahren | |
| politische Western, philosophische Western – sehr unterschiedliche Formen, | |
| von denen der amerikanische Western noch nicht träumen konnte. Unter den | |
| Gialli findet sich auch so etwas wie „Don’t Torture a Duckling“ von Lucio | |
| Fulci. Ein wütender Film über Engstirnigkeit auf dem Lande und radikal | |
| antiklerikal. Da sind also viele Themen, die dem Regisseur offensichtlich | |
| am Herzen lagen, wie nebenbei eingewoben. | |
| Und was wäre ein Beispiel für die eher missratenen Kinder des Genres? | |
| Ach ja, die Missratenen mag man ja häufig am liebsten, das ist so wie bei | |
| echten Kindern. So etwas wie Renato Polsellis „Das Grauen kommt nachts“ von | |
| 1972 zum Beispiel hat eine ganz bezaubernde Ed-Wood-Qualität. Ich würde | |
| davor zurückschrecken, den Film als missraten zu bezeichnen. Er ist als | |
| Überzeugungstat und völlig überbordender Frontalzusammenstoß eigentlich | |
| perfekt und kaum zu übertreffen. So richtig misslungen finde ich nur Filme, | |
| die genau das wiederkäuen, was man erwartet. Was die in diesem Sinne | |
| gelungenen Sachen angeht, ist die Trefferquote beim Giallo sehr hoch: Es | |
| wurde viel experimentiert, das Format bot den Regisseuren reichlich | |
| Gelegenheit, ihre diversen Privatverhexungen einzubringen. | |
| Welchen Giallo würden Sie Einsteigern empfehlen? | |
| Auf jeden Fall Dario Argentos Debüt „Das Geheimnis der schwarzen | |
| Handschuhe“ von 1970. Das ist ein durchaus repräsentativer, gleichzeitig | |
| aber auch trendsetzender Kunst-Giallo, der einem die Reize wie auch die | |
| Schwächen des Genres auf unterhaltsame Weise vor Augen führt. Ich mag den | |
| Film im Gesamtwerk Argentos besonders gern, weil er noch roh, ruppig und | |
| noch vergleichsweise unprofessionell ist. Dadurch wirkt er sehr echt, so | |
| wie er sein sollte. Als zweiten Film dann vielleicht noch „Blutige Seide“ | |
| von Mario Bava, erschienen 1964. Der spielt in einem Modesalon namens | |
| Christian, da bin ich natürlich parteiisch. | |
| 21 Nov 2020 | |
| ## AUTOREN | |
| Benjamin Moldenhauer | |
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