# taz.de -- Joe Biden als US-Präsident: Kriegen wir hin | |
> Bei Amtsantritt wird Joe Biden vor einem Scherbenhaufen stehen. Ohne | |
> klare Mehrheiten im Kongress und mit einem Supreme Court, der gegen ihn | |
> ist. | |
Bild: Soll nun die Geschicke der USA lenken: Joe Biden, ehemaliger Vizepräside… | |
Die neue Ära beginnt paradox. Joe Biden hat am 3. November mehr Stimmen | |
bekommen, als je vor ihm ein Politiker in den USA erhalten hat. Dennoch | |
wird er – falls es bei ihm bleibt – einer der schwächsten Präsidenten der | |
Moderne sein: Ohne klare Mehrheiten im Kongress. Mit einem gegnerischen | |
Supreme Court. Mit dem Makel, erst nach einer Zitterpartie an die Macht | |
gekommen zu sein. Mit einem Volk, das so gespalten ist wie seit dem | |
Bürgerkrieg nicht mehr. Und mit einem wütenden Amtsvorgänger, der aus dem | |
Off gegen ihn intrigieren und agitieren wird. Das sind keine günstigen | |
Voraussetzungen, um das Land aus seiner tiefen Krise herauszuführen. | |
Wenn es kompliziert wird, greift Biden zu Populärem. Sagt: „[1][Folks]“ – | |
Leute – „so siehts aus“, oder: „das ist ein Haufen Blödsinn“. Beschr… | |
das Problem in kurzen, einfachen Sätzen. Stottert manchmal ein bisschen. | |
Fängt sich wieder. Lächelt aus seinen blauen Augen. Bleibt ruhig. Und | |
versichert: „Wir kriegen das schon hin.“ | |
So hat Biden es auch in den zurückliegenden dramatischen Tagen gehalten, | |
als der Ausgang der Wahlen völlig unklar war. Als Donald Trump sich – ohne | |
jeden Beweis – im Weißen Haus zum Wahlsieger erklärte, und als vor manchen | |
Wahllokalen des Landes, in denen noch Stimmen ausgezählt wurden, bewaffnete | |
Demonstranten aufmarschierten. Zu einem Zeitpunkt, an dem frisch gewählte | |
Präsidenten gewöhnlich mit Hymnen und Fähnchen feiern, ging Biden auf | |
Tauchstation. Er verschwand ganze Tage lang aus der Öffentlichkeit. Und | |
wenn er sich meldete, hielt er sich kurz, mahnte zum „Abwarten“ und zu | |
„Geduld“ und zeigte sich zuversichtlich. Das Wort „Sieg“ vermied er | |
sorgfältig. | |
## Ruhe, Geduld und ein langer Atem | |
Ruhe und Geduld und langer Atem gehören zu Bidens Markenzeichen. Er hat sie | |
in den vielen privaten und politischen Krisen seines Lebens bewiesen. Als | |
seine erste Frau und Tochter bei einem Autounfall ums Leben kamen, als sein | |
Sohn Beau an Krebs starb und bei den beiden vorausgegangenen Malen – in den | |
Jahren 1988 und 2008 – als er sich erfolglos um die | |
Präsidentschaftskandidatur bewarb. Biden ist kein charismatischer Redner. | |
Kein Querdenker oder Neuerer. Sondern ein Pragmatiker. Jemand, den viele | |
gern als Nachbarn hätten. Freundlich, umgänglich und nicht selten mit von | |
Rührung feuchten Augen. All das gehört zu dem öffentlichen Image des | |
Berufspolitikers. Genau wie seine Geburt in einer Arbeiterfamilie in der | |
Kohlestadt Scranton in Pennsylvania und die in seinem Land seltene | |
Tatsache, dass er, ein weißer Mann, acht Jahre unter einem schwarzen Chef | |
gedient hat. | |
Bei dem Amtsantritt im Januar wird Biden 78 sein. Das macht ihn zu dem | |
ältesten Mann, der je das Präsidentenamt antrat. Von ihm sind weder | |
öffentliche Meltdowns noch Twitterkriege noch Hasskampagnen zu befürchten. | |
Biden wird einen ruhigen und besonnenen Ton wählen und Einfühlungsvermögen | |
zeigen. Nach den zurückliegenden vier Jahren wird das in Washington fremd | |
klingen. Viele sehnen sich genau danach. | |
Doch zugleich wollen sie mehr. Und richten enorme politische Erwartungen an | |
Biden. Er ist aus einem Feld von mehr als 20 schillernden demokratischen | |
Präsidentschaftsanwärtern hervorgegangen. Unter ihnen waren Junge und Alte, | |
Männer und Frauen, Braune und Schwarze, Linke und Zentristen. Gemeinsam | |
brachten sie im vergangenen Jahr Aufbruchstimmung in die USA von Trump. | |
Doch die Demokratische Partei konzentrierte ihre Energie darauf, eine | |
Präsidentschaftskandidatur des demokratischen Sozialisten Bernie Sanders zu | |
verhindern. Nachdem sie damit erfolgreich war, blieb Biden übrig. In seinen | |
47 Jahren in Washington gehörte er zum demokratischen Mobiliar. Bei jedem | |
Vorhaben der Partei – auch bei jenen, von denen die meisten Demokraten | |
später abrücken mussten – war er dabei. Im Senat vertrat er verlässlich die | |
Interessen von Kreditkartengesellschaften, von denen viele ihren Hauptsitz | |
in seinem kleinen Bundesstaat Delaware haben. 1994 setzte er die | |
Strafgesetzreform durch, die Hunderttausende junge, meist schwarze Männer – | |
oft wegen minimaler Drogenvergehen – hinter Gitter brachte. 2003 stimmte er | |
für den Einmarsch im Irak. | |
Für den Apparat der Demokratischen Partei war er der verlässlichste und | |
vorhersehbarste Kandidat. Aber für die Mehrheit der potenziellen Wähler ist | |
er das kleinere Übel. Um Biden für sie akzeptabel zu machen, war mehr | |
nötig. Biden machte einen programmatischen Spagat, der breiter und | |
progressiver klingt, als alles, was er in seiner bisherigen politischen | |
Karriere getan hat. Danach will er sogar Dinge radikal verändern, die er | |
vor wenigen Jahren selbst als Vizepräsident von Barack Obama mit eingeführt | |
hat. Heute ist Biden bereit, die staatliche Säule der Gesundheitsreform – | |
die ursprünglich fast ausschließlich auf privaten Versicherungen basierte – | |
auszubauen. Er erklärt sich auch zu einer umfassenden Einwanderungsreform | |
bereit, nachdem er zusammen mit Obama für massive Abschiebungen | |
verantwortlich war. | |
Bei dem Amtsantritt im Januar wird Biden jede Menge zerschlagenes Porzellan | |
vorfinden. Sein Amtsvorgänger hat Ministerien und Behörden ausgehungert. | |
Hat Dutzende von Regeln – darunter solche zum Schutz der Umwelt, des Klimas | |
und der Beschäftigten – abgeschafft. Hat internationale Abkommen und die | |
Mitgliedschaft in internationalen Organisationen aufgekündigt. Und hat – | |
angesichts einer Pandemie, die in den USA eine Viertelmillion Menschenleben | |
gekostet und zig Millionen arbeitslos und bald auch obdachlos gemacht hat – | |
neun Monate nach ihrem Beginn immer noch keinen nationalen Plan für das | |
Umgehen mit ihr vorgelegt. | |
All das will Biden reparieren. Er will, sagt er, „heilen“ und seine | |
Landsleute wieder zusammenbringen. Aber zugleich steht er in der Pflicht | |
seines ökonomischen und sozialen Programms. „Build Back Better“ hat Biden | |
dieses Programm genannt, mit dem er die marode Infrastruktur der USA | |
modernisieren, billigen Wohnraum schaffen, die Mindestlöhne landesweit auf | |
15 Dollar anheben und die Energie aus dem Bereich der fossilen Brennstoffe | |
herausholen will. Nichts an dem Programm ist „sozialistisch“, wie Trump | |
behauptet hat. Aber es ist immerhin so ambitioniert, dass der demokratische | |
Sozialist Bernie Sanders es mit dem „New Deal“ von Franklin D. Roosevelt | |
vergleicht. Mit den größten Sozialreformen der US-Geschichte, die das Land | |
aus der Depression der 30er Jahre geführt haben. Auch für die | |
Gewerkschaften der USA war „Build Back Better“ ein zentraler Grund, Biden | |
zu unterstützen. | |
Wie andere Präsidenten vor ihm wird auch Biden die Möglichkeit haben, | |
konkrete Maßnahmen im Alleingang durchzusetzen. Regeln, die Trump per | |
Dekret abgeschafft hat, kann er per Dekret wieder in Kraft setzen. Er kann | |
auch einzelne Gruppen vor Abschiebung schützen. Aber für ein | |
billionenschweres Konjunkturprogramm, für Steuererhöhungen, für neue | |
internationale Verträge und für die Besetzung von Gerichten braucht er die | |
Mehrheiten im Senat. Und daran wird es hapern. Derselbe republikanische | |
Senatschef Mitch McConnell, der schon unter Obama die Parole ausgegeben | |
hat, jede Reform zu verhindern, ist weiterhin am Ruder. Und unter Trump ist | |
die Republikanische Partei noch weiter nach rechts gerückt. | |
## Kein Erdrutschsieg für Biden | |
Am 3. November schienen die Voraussetzungen für einen Erdrutschsieg von | |
Biden erfüllt. Trump schien – gesundheitspolitisch, ökonomisch und | |
charakterlich – versagt zu haben. Rund um Biden schien sich eine große | |
Allianz gebildet zu haben, die von „moderaten“ Republikanern bis hin zu | |
radikalen Linken reichte. Doch diese Blase ist geplatzt. Trotz der massiven | |
Kampagnen von Lincoln Project und anderen finanzstarken Lobbygruppen | |
hielten die meisten „moderaten“ Republikaner Trump die Treue. | |
Biden sagt, dass er kein Präsident der Demokraten, sondern ein Präsident | |
aller Amerikaner sein will. Er gehört zu einer Generation von | |
US-Politikern, die stolz auf ihre parteiübergreifende Zusammenarbeit sind. | |
Doch in den USA des Jahres 2020 sind solche, die so denken, eine winzige | |
Minderheit. Biden ist mit den Stimmen aus dem Demokratischen Lager und von | |
der Linken gewählt worden. Und selbst sie haben seiner Partei die Mehrheit | |
in den anderen Institutionen verweigert. Einmal im Amt, wird es Biden nicht | |
leicht fallen, seine republikanischen Landsleute überhaupt zu erreichen. | |
Und sehr schwer, wenn nicht gar unmöglich, seinen demokratischen Wählern | |
das zu geben, was sie von ihm erwarten. | |
6 Nov 2020 | |
## LINKS | |
[1] https://edition.cnn.com/videos/politics/2019/04/30/joe-biden-folks-first-20… | |
## AUTOREN | |
Dorothea Hahn | |
## TAGS | |
US-Wahl 2024 | |
Joe Biden | |
Donald Trump | |
Joe Biden | |
Schwerpunkt Konflikt zwischen USA und Iran | |
US-Wahl 2024 | |
Pariser Abkommen | |
Rechtspopulismus | |
Pennsylvania | |
Mike Pence | |
USA | |
US-Wahl 2024 | |
Liebeserklärung | |
Pennsylvania | |
USA | |
## ARTIKEL ZUM THEMA | |
Präsidentschaftswahlen in den USA: Bidens Risikospiel | |
Der US-Präsident könnte als sehr erfolgreicher Präsident in die | |
Geschichtsbücher eingehen – wenn er auf eine erneute Kandidatur verzichten | |
würde. | |
Angriff im Irak: US-Botschaft mit Raketen attackiert | |
Erstmals seit einem Monat ist die US-Botschaft in Bagdad wieder beschossen | |
worden. Bei weiteren Angriffen in Iraks Hauptstadt wurde ein Kind getötet. | |
USA nach den Wahlen: Trump geht, die Wut bleibt | |
Die Linke braucht ein Konzept gegen den leicht entflammbaren Hass auf | |
liberale Eliten: eine ausgleichende, moderate und entschieden soziale | |
Politik. | |
Joe Biden stellt Pläne für USA vor: Corona wird Sache der Experten | |
Für den gewählten US-Präsidenten ist der Kampf gegen die Pandemie zentral. | |
Weitere Prioritäten: Wirtschaftskrise, Rassismus und Klimawandel. | |
Polarisierung der Gesellschaften: Dümmer als Trump | |
Nach der Präsidentschaftswahl in den Vereinigten Staaten: Braucht die | |
liberale Demokratie eine neue Antwort auf Rechtspopulismus? | |
Siegesrede von Joe Biden nach US-Wahl: Sie wollen Amerika heilen | |
In seiner Siegesrede verkündet Joe Biden, er wolle „ein Präsident für alle | |
Amerikaner sein“. Amtsinhaber Trump erkennt seine Niederlage nicht an. | |
Jubel in New York City über Wahlergebnis: Freudentänze in Harlem | |
New York City atmet auf. In der Hochburg der Demokratischen Partei feiern | |
die Menschen den Wahlsieg von Joe Biden und Kamala Harris. | |
Verhältnis zu den USA nach den Wahlen: Keine Liebe, aber größer als du | |
Die USA sind ein nahes, fernes Land – als Supermacht und als | |
Projektionsfläche. Dazu sechs Anmerkungen aus der Kulturredaktion der taz. | |
Joe Biden wird nächster US-Präsident: Eine Chance, mehr nicht | |
Es ist erleichternd, dass Donald Trump nach nur einer Amtszeit abgewählt | |
ist. Aber für eine erfolgreiche Präsidentschaft Biden reicht das nicht. | |
Lob an die Wahlhelfer und -helferinnen: Die, die wirklich zählen | |
Die Freiwilligen in den US-Wahllokalen verdienen größte Hochachtung. Sie | |
machen ihren Job, während vor der Tür gegen sie protestiert wird. | |
US-Präsidentschaftswahl: Ja? Nein? Vielleicht? | |
Hat Biden gewonnen? Kann Trump noch den Bush-Weg von 2000 gehen? Alles, was | |
man zum US-Wahl-Nachspiel jetzt wissen muss. | |
Nach der Wahl in den USA: Wie sich das System Trump zersetzt | |
Noch sind nicht alle Stimmen ausgezählt, da wenden sich schon viele | |
RepublikanerInnen vom Präsidenten ab. Wer jetzt wie reagiert, ist | |
zukunftsweisend. |