| # taz.de -- Bedeutung des Begriffs „Neutralität“: Legal, egal, klimaneutral | |
| > Alle wollen Emissionen reduzieren. Aber was heißt Klimaneutralität genau? | |
| > Man kann es sich leicht machen – oder der Realität ins Gesicht blicken. | |
| Bild: Bedeutet Klimaneutralität alle eigenen Emissionen auf null zu reduzieren? | |
| Unsere Schweizer FreundInnen habe ich oft beneidet. Nicht nur um ihre | |
| glasklaren Bergseen und manchmal um ihre direkte Demokratie, sondern auch | |
| um ihre Chance auf einen argumentativen Notausgang: Ski-Abfahrt oder | |
| Langlauf? Anreise per Auto oder Zug? Abends Spaghetti oder Risotto? „Wir | |
| halten uns da raus“, sagen die EidgenossInnen dann gern, „wir sind | |
| neutral.“ | |
| Das hilft natürlich nicht. Aber in der Klimadebatte findet man das | |
| inzwischen toll: Jedes Buch, jeder Kongress, jede Kreuzfahrt, alles | |
| [1][„klimaneutral“]. Sogar dieses Land und dieser Kontinent wollen bis 2050 | |
| „treibhausgasneutral“ sein. Die Regierung hat das entschieden, Bundestag | |
| und -rat haben es beschlossen. Was es bedeutet, weiß allerdings niemand. | |
| Und wie sehr das unser tägliches Leben auf den Kopf stellen wird, ahnen nur | |
| wenige Mutige. Viele bisherige Konzepte klingen mehr so nach | |
| Gruselthriller. Der Bericht der Agora-Thinktanks und der Stiftung | |
| Klimaneutralität war also dringend nötig. | |
| Denn dass der Klimawandel irgendwie ein Problem ist, haben inzwischen alle | |
| begriffen, die nicht in den US Supreme Court berufen werden wollen. Aber | |
| dass die Lösung darin bestehen soll, möglichst bald nur noch so viele | |
| Treibhausgase in die Luft zu pusten, wie man einlagern kann, etwa in | |
| Bäumen, ist unklar. | |
| Und daher schneidert sich gerade jede Stadt, jedes Land, jede Behörde und | |
| jedes Unternehmen seine eigene Idee von „Klimaneutralität“: Alle eigenen | |
| Emissionen runter auf null? Was ist mit Zulieferern? Oder nur die Hälfte | |
| einsparen und den Rest per CO2-Lizenzen „kompensieren“? Und rechnen wir nur | |
| Kohlendioxid und lassen Methan, Lachgas und andere Treibhausgase unter den | |
| Tisch fallen (das nennen wir dann „CO2-neutral“, und keiner merkt den | |
| Unterschied), um die Bauern zu erfreuen? | |
| ## Ähnlich schwammig wie „Nachhaltigkeit“ | |
| Was „Klimaneutralität“ ist und wie sie aussieht, wird inzwischen ähnlich | |
| schwammig wie „Nachhaltigkeit“. Deshalb lieben jetzt auch alle den Begriff | |
| – er klingt ja auch zu gut und klinisch sauber. Neutral sein heißt: Wir | |
| machen uns die Hände nicht schmutzig. Neutralseife ist gut für die Umwelt. | |
| Neutral heißt: weder gut noch böse; wir sind stets dabei, aber nie | |
| verantwortlich. Wir beurteilen alles von einem objektiven Standpunkt aus. | |
| Wir halten uns raus und verdienen damit gutes Geld – wie die Schweiz. | |
| Neutral heißt aber auch: mir doch egal. So meint es [2][Amy Coney Barrett, | |
| erzkonservative Richterin] auf dem Weg in den Obersten US-Gerichtshof. Weil | |
| sie „keine Wissenschaftlerin“ sei, leiste sie sich keine „Meinung bei ein… | |
| sehr umstrittenen Frage“. Neutral kann also auch bedeuten: zu feige, um die | |
| Realität zu sehen. | |
| Das ist das Problem mit der „Klimaneutralität“. Die Bezeichnung suggeriert | |
| Raushalten, Abstand, Abwarten, Zurückhaltung. Motto: Legal, egal, | |
| klimaneutral. Dabei brauchen wir genau das Gegenteil: Einmischen, Anpacken, | |
| klare Entscheidungen treffen, volle Kanne loslegen. Wer den ganzen Wahnsinn | |
| aus vornehmer Distanz betrachtet, wird nie klimaneutral. | |
| 23 Oct 2020 | |
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| ## AUTOREN | |
| Bernhard Pötter | |
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