# taz.de -- Hochschulforschung in Darmstadt: Stadt der Zukunft | |
> Die Hochschule in Darmstadt will eine zukunftsorientierte | |
> Stadtentwicklung. Dafür arbeiten Forscher gemeinsam mit Verwaltung und | |
> Aktivisten. | |
Bild: Lastenfahrrad von „LieferadDA“, einem Lieferrad-Dienst, der während … | |
BERLIN taz | Darmstadt, Hessens viertgrößte Stadt, ist nach eigenem | |
Verständnis eine Wissenschaftsstadt und hat dies sogar, einem Doktortitel | |
gleich, zum Namensbestandteil gemacht. Auf allen Briefköpfen und | |
Verlautbarungen der von einem grünen Oberbürgermeister geführten | |
Stadtverwaltung prangt der Eigenname „Wissenschaftsstadt Darmstadt“. | |
Vielleicht nur eine vorübergehende Mode, denn vor Jahren war ein anderer | |
Terminus im Schwange: „Digitalstadt“. | |
Doch Fakt ist, dass die südhessische Metropole (160.000 EinwohnerInnen | |
50.000 Studierende) von ihren Forschern und Gelehrten viel hält: Neben der | |
renommierten Technischen Universität und einem Kontrollzentrum der | |
Europäischen Raumfahrtbehörde ESA ist auch das Helmholtzzentrum für | |
Schwerionenforschung in Darmstadt angesiedelt. Zugleich erwartet man | |
einiges von der Wissenschaft. Aus dem Ansatz, die Produkte und Fähigkeiten | |
der Wissenschaft systematisch für die weitere Entwicklung der Stadt zu | |
nutzen, sind auch die [1][„Tage der Transformation“] entstanden, die in der | |
kommenden Woche zum dritten Mal stattfinden. | |
Die Kooperation von Wissenschaft, Wirtschaft und Stadtverwaltung hat in | |
Darmstadt nach den Worten von Oberbürgermeister Jochen Partsch dazu | |
geführt, „dass wir in einer besonderen Art und Weise die | |
Wertschöpfungsketten in unserer Stadt abbilden können“. Damit meint er den | |
[2][Transfer von der Grundlagenforschung] über die angewandte Forschung, | |
die Produktentwicklung, die eigentliche Produktion in den Unternehmen bis | |
bin zum Vertrieb im Handel. „Das findet man in dieser Form in wenigen | |
anderen europäischen Städten unserer Größenordnung“, hebt Partsch hervor. | |
„Und das gibt uns die Chance, unsere städtische Politik mit sozialer und | |
ökologischer Nachhaltigkeit zu verbinden“. | |
Darmstadt hat sich in den vergangenen fünf Jahren „stark in Richtung einer | |
nachhaltigen Entwicklung aufgemacht“, sagt [3][Torsten Schäfer, der an der | |
Hochschule Darmstadt, einer Fachhochschule, die erste Professur für „grünen | |
Journalismus“ innehat.] Dieser Trend habe mit vielen Faktoren zu tun, | |
„sicher auch den starken Grünen, einer sehr lebendigen Verbands- und | |
AktivistInnen-Szene, aber auch den Hochschulen, die hier zunehmend mehr | |
aktiv sind“. | |
## Eine Graswurzel-Gruppe | |
An seiner Hochschule sei das Thema Nachhaltigkeit mittlerweile zu einer | |
festen Dimension in Lehre, Forschung und auch im Betrieb geworden. | |
„Darmstadt ist sicher eine der Städte bundesweit, die gerade besonders | |
schnell ergrünt und hier im Spitzenfeld dabei ist“, beobachtet Schäfer. | |
Zentraler Motor innerhalb der Hochschule, der vieles in Bewegung bringt, | |
ist die „Initiative für Nachhaltige Entwicklung“ (INE), die Schäfer als | |
eine „Graswurzel-Gruppe, die von unten wirkt“ beschreibt. In ihr arbeiten | |
Profs, MitarbeiterInnen und Studierende zusammen. | |
„Und von hier gingen auch wichtige Impulse für alle anderen Ebenen aus.“ In | |
dieser Woche war das jüngste Treffen der Gruppe. Vom Elan der Studis ist | |
der Professor begeistert, wenn er ihre Projekte aufzählt: „Hochbeete | |
anlegen und Vogelhäuser, Achtsamkeitsspaziergang im Wald, | |
Nachhaltigkeitspreis für Abschlussarbeiten, den sie planen, | |
Selbsthilfegruppe zu Überkonsum und das Projekt Kleiderstange an mehreren | |
Orten in Darmstadt für Kleidertausch“. | |
Beim großen Exzellenzwettbewerb um Deutschlands Super-Unis hat Darmstadt | |
zwar nicht punkten können. Dafür war sie 2018 beim „kleinen | |
Exzellenzwettbewerb“, dem Bund-Länder-Programm „Innovative Hochschule“, | |
erfolgreich. Mit ihm werden Projekte von Fachhochschulen und kleinen Unis | |
gefördert, die sich der sogenannten „Dritten Mission“ widmen – das ist n… | |
Lehre und Forschung der Transfer des Wissens in die Gesellschaft und die | |
Wirtschaft. Die Hochschule Darmstadt zog mit ihren Projekt „s:ne – | |
Systeminnovation für Nachhaltige Entwicklung“ einen der großen Fische an | |
Land. Zehn Millionen Euro stehen für fünf Jahre zur Verfügung. | |
## Eigener Radbelieferungsdienst für Darmstadt | |
Inzwischen sind im großen S:NE-Verbund 50 Personen an der Arbeit, berichtet | |
Projektleiterin Silke Kleihauer. Das „S“ im Projektkürzel, die | |
Systeminnovation, erklärt sie mit der Beeinflussung „soziotechnischer | |
Systeme“. Es gehe in heutigen Zeiten des Klimawandels nicht mehr nur um | |
Technologietransfer für Nachhaltigkeit. „Die Menschen müssen auch ihr | |
Verhalten verändern“, sagt Kleihauer. Daher werde in Darmstadt Transfer als | |
„rekursiver Prozess“ verstanden, bei dem die Gesellschaft und ihre Akteure | |
von Anfang an mit einbezogen werden. | |
Konkret geht es bei den S:NE-Themen um zukunftsorientierte Stadtentwicklung | |
am Beispiel des Quartiers Mollerstadt, die Digitalisierung zur | |
Unterstützung von Prozessen Richtung einer nachhaltigen Stadtentwicklung | |
sowie nachhaltige Konsum- und Produktionsweisen am Beispiel der | |
Wertschöpfungsketten von Ledererzeugnissen. Besonderen Drive hat in der | |
Pandemiezeit das Projekt eines elektrischen Lastenfahrrads mit Namen | |
„LieferradDA“ (die DA-Buchstaben stammen vom Darmstädter Autokennzeichen) | |
erfahren. Weil durch Corona viele Läden geschlossen seien, „hat das Projekt | |
eine richtigen Schub bekommen“, sagt Michèle Bernhard, die bei der | |
Schader-Stiftung das Transformationsprojekt betreut. | |
Ziel ist es, einen Radbelieferungsdienst für Darmstadt aufzubauen, der den | |
lokalen Einzelhandel unterstützt und dabei die Umwelt schont. Seit dem | |
Start Mitte 2020 wurden 1.068 Lieferungen mit dem Lastenrad ausgefahren und | |
dabei 3.053 Kilometer zurückgelegt. Ein Problem, das als nächstes gelöst | |
werden muss: Es gibt zu wenig öffentliche Stromtankstellen in Darmstadt. | |
Derweil geht die Transformation auch in der Wissenschaft weiter. So wurde | |
an der Hochschule Darmstadt das Promotionszentrum | |
Nachhaltigkeitswissenschaften eingerichtet, an dem – bundesweit einmalig – | |
der akademische Grad eines Doktors der Nachhaltigkeitswissenschaften (Dr. | |
rer. sust.) erworben werden kann. Am 1. April tritt Nicole Saenger, | |
Professorin für Wasserbau am Fachbereich Bau- und Umweltingenieurwesen, ihr | |
Amt als Vizepräsidentin für Forschung und Nachhaltigkeit an – auch dies ein | |
Novum. | |
## Fahrradschnellweg zwischen Darmstadt und Frankfurt | |
„Unsere Transferstrategie ist bisher einmalig in der deutschen | |
Hochschullandschaft“, sagt Saeger gegenüber der taz „Wir wollen direkt vom | |
Wissen ins Handeln kommen und haben hierbei die Akteure im Blick, die an | |
der Transformation mitwirken sollen.“ Beispiel sind in Darmstadt neben dem | |
[4][Ausbau der Fahrrad-Infrastruktur] und dem bereits bestehenden | |
Fahrrad-Schnellweg zwischen Darmstadt und Frankfurt die Beteiligung am | |
Klimaschutzbeirat der Stadt oder die Unterstützung der Partnerstadt | |
Uschgorod (Ukraine) im Abfallmanagement. Die schwierigste | |
Transformationsaufgabe für Darmstadt sieht Saenger in der | |
klimaverträglichen Sanierung des Gebäudebestands und der Nutzung | |
gebäudenaher regenerativer Energiequellen wie der passiven Nutzung von | |
Solarenergie. | |
An den Transformationstagen ist auch das [5][Frankfurter Institut für | |
sozial-ökologische Forschung ISOE] mit einem Workshop beteiligt. Unter dem | |
Titel „Navigating the Infodemic“ sollen neue Wege der | |
Wissenschaftskommunikation im Zeitalter von Fake News und | |
Nachrichtenüberflutung eruiert werden. | |
Für ISOE-Chef Thomas Jahn ist es wichtig, das S-NE-Projekt nach dem | |
Auslaufen der Förderung Ende 2022 weiter fortzusetzen: „Es geht darum, die | |
an vielen Orten entstandenen neuen Ansätze weiterzuführen, also zu | |
verstetigen“, so Jahn gegenüber der taz. Dazu wäre es wichtig, „immer | |
wieder auch Räume zu gestalten, an denen relevante Akteure der Region sowie | |
weitere Hochschulen, außeruniversitäre Forschung und die Zivilgesellschaft | |
zusammenkommen“. Hierzu zählten auch die „Darmstädter Tage der | |
Transformation“ der Schader-Stiftung, wenngleich sie in diesem Jahr nur im | |
Internet stattfinden können. | |
14 Mar 2021 | |
## LINKS | |
[1] https://www.schader-stiftung.de/themen/gemeinwohl-und-verantwortung/fokus/t… | |
[2] /Kurswechsel-in-Forschungspolitik/!5690105 | |
[3] /Umweltschutz-in-der-Sprache/!5725604 | |
[4] /Risikoforscher-zu-Coronafolgen/!5736697 | |
[5] https://www.isoe.de/aktuelles/news/detail/news/wissenschaftskommunikation-h… | |
## AUTOREN | |
Manfred Ronzheimer | |
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