# taz.de -- Aus Le Monde diplomatique: Emanzipation auf Rädern | |
> Sie waren Stationschefinnen oder Ralleyfahrerinnen. Um die | |
> Jahrhundertwende trugen Frauen maßgeblich zur Entwicklung der neuen | |
> Transportmittel bei. | |
Bild: Wilma K. Russey, die erste Frau mit einer Taxilizenz in New York, Januar … | |
Am 23. September 2019 stellte Thomas Cook, das älteste Reiseunternehmen der | |
Welt, wegen Insolvenz seinen Betrieb ein. Seitdem ist bis auf Weiteres auch | |
das Thomas Cook Archive in London geschlossen, wo zahlreiche | |
Dankesschreiben von alleinreisenden Frauen aus dem 19. Jahrhundert lagern. | |
16 Jahre nach der Eröffnung der weltweit ersten Dampfeisenbahnstrecke – 39 | |
Kilometer zwischen Stockton und Darlington – organisierte der Laienprediger | |
und Anhänger der Abstinenzbewegung Thomas Cook am 5. Juli 1841 seine erste | |
Gruppenreise mit der Eisenbahn. 570 Fabrikarbeiterinnen und Fabrikarbeiter, | |
die Cook vom Alkohol abbringen wollte, fuhren an diesem Tag von Leicester | |
ins 25 Kilometer entfernte Loughborough, um an einer Versammlung der | |
Temperenzler, wie sich die überzeugten Antialkoholiker nannten, | |
teilzunehmen. Die Hin- und Rückfahrt plus „food and entertainment“ und | |
selbstverständlich alkoholfreien Getränken kostete nur einen Schilling. | |
Angespornt vom Erfolg seiner ersten Tagesreise veranstaltete Cook immer | |
häufiger kurze Fahrten zu solchen Versammlungen, bis er 1845 erstmals eine | |
mehrtägige Vergnügungsreise nach Liverpool anbot, inklusive Schiffstour zur | |
Isle of Man und Ausflug in die walisischen Berge. Neben den darauffolgenden | |
regelmäßigen „Arbeiter‑Mondscheinfahrten“ zu den südenglischen Badeort… | |
organisierte Cook 1851 eine Reise zur Weltausstellung nach London, 1856 die | |
erste Rundreise auf den europäischen Kontinent und ab 1865 begleitete | |
Gruppenreisen nach Nordamerika. | |
## Kleine Fluchten aus einem beschwerlichen Alltag | |
Besonders Frauen waren von Cooks Angeboten begeistert, wie die | |
Reiseberichte und zahlreichen Briefe an den Erfinder des modernen | |
Massentourismus bezeugen. Es waren kleine Fluchten aus einem beschwerlichen | |
Alltag, in dem das Wohl des männlichen Oberhaupts der Familie stets an | |
erster Stelle stand und Frauen, zumal aus der Arbeiterklasse, kaum Zugang | |
zu Bildung und Freizeitvergnügen hatten. | |
Auch wenn die Arbeiterinnen und Arbeiter in England bis in die 1840er Jahre | |
hinein wie Güter in offenen Waggons transportiert wurden, hoben | |
Zeitgenossen gern das Emanzipatorische des neuen Verkehrsmittels hervor. | |
„Alle Klassen der Gesellschaft“ kämen in der Eisenbahn zusammen, schwärmte | |
mehr einem Ideal als den Fakten entsprechend 1839 der sozialistische | |
Vordenker Constantin Pecqueur in seiner „Économie sociale“. | |
Wenn überhaupt, dann könnte man die US‑amerikanische Eisenbahn mit ihrem | |
„klassenlosen Großraumwagen“ als egalitär bezeichnen. In den 1840er Jahren | |
etablierte sich in den Vereinigten Staaten als Standardtyp ein | |
langgestreckter Durchgangswagen ohne Abteile – nur für stillende Mütter gab | |
es einen abgetrennten Raum. | |
Separate „Damenabteile“ gab es hingegen in den europäischen Zügen, wo die | |
gutbetuchten Reisenden in überdachten und beleuchteten Waggons saßen – und | |
lasen: „Die Lektüre ist nahezu zur allgemeinen Beschäftigung auf der | |
Eisenbahn geworden“, heißt es etwa 1866 auf dem französischen Ärztekongress | |
in Bordeaux, „und zwar so sehr, dass man kaum jemanden sieht, der sich | |
nicht vor Antritt der Reise mit dem für diesen Zeitvertreib nötigen | |
Lesestoff versorgt.“ | |
## Frauen machten den größten Teil des Lesepublikums aus | |
Tatsächlich machten Frauen den weitaus größten Teil des Lesepublikums aus, | |
vor allem für die als Reiseliteratur so beliebten Literatur‑Zeitschriften, | |
in denen die Romane des 19. Jahrhunderts – von Honoré de Balzac, Charles | |
Dickens, die Brontës über Theodor Fontane bis Lew Tolstoi – lange vor ihrer | |
Publikation in Buchform zuerst als Fortsetzungsserien erschienen. | |
In England eröffnete 1848 an der Euston Station die erste | |
Bahnhofsbuchhandlung, die zugleich als Leihbibliothek fungierte. 1849 hatte | |
der Laden im Bahnhof Paddington über 1000 Bücher im Sortiment, die man sich | |
für eine geringe Gebühr ausleihen konnte und am Ankunftsort wieder abgab. | |
Und in Frankreich betrieb der Buchhändler und Verleger Louis Hachette 1854 | |
schon 60 Bahnhofsfilialen, die mehr Zeitschriften als Bücher verkauften, | |
während sich der Journalist und Schriftsteller Karl Gutzkow im selben Jahr | |
darüber wunderte, dass „sich unsere deutschen Buchhändler, die doch sonst | |
so unternehmerisch sind, noch nicht auf die Eisenbahnen gewagt haben“. | |
Frauen reisten aber nicht nur in der Eisenbahn, sie arbeiteten auch für | |
sie, und das von Anfang an. Ein Fünftel der Beschäftigten, die zwischen | |
1841 und 1849 die Eisenbahnstrecke südlich von Nürnberg bauten, waren | |
Frauen, die für ein geringes Tagegeld zum Teil schwere körperliche Arbeiten | |
wie Steineklopfen verrichteten. 1882 waren in ganz Deutschland 1302 Frauen | |
im Staats- und Privateisenbahndienst tätig – als Fahrkartenverkäuferinnen, | |
Telegrafinnen oder in der Gepäckabfertigung. Es wurden allerdings nur | |
Ledige und Witwen zwischen 20 und 30 Jahren angestellt. | |
## Zölibat für Eisenbahnerinnen | |
Clara Jaschke, 1873 eine der ersten Berliner Eisenbahnerinnen, erkämpfte | |
1898 die Verbeamtung von Frauen bei der Staatseisenbahn. Das bedeutete aber | |
nicht unbedingt einen sicheren Arbeitsplatz und höhere Löhne. Bei einer 42- | |
bis 60‑Stunden‑Woche mit Nacht- und Sonntagsdiensten verdienten die | |
Beamtinnen weniger als ihre männlichen Kollegen, und sobald sie heirateten, | |
wurden sie ohne Anspruch auf Pension entlassen. Dieses sogenannte | |
Beamtinnenzölibat, das auch für Lehrerinnen galt, wurde erst mit | |
Inkrafttreten der Weimarer Verfassung am 11. August 1919 abgeschafft. | |
In „Die Stellung der Frau im Eisenbahndienst“, 1903 im Leipziger Verlag der | |
Frauen‑Rundschau erschienen, beklagt die Eisenbahnerin Ella Kaufmann den | |
Rückstand Deutschlands im Vergleich zu anderen europäischen Ländern, den | |
USA und Australien. Im deutschen Kaiserreich waren 1907 immer noch erst | |
6432 Frauen in zumeist untergeordneter Position bei der Staatseisenbahn | |
beschäftigt, wohingegen es in Frankreich um die Jahrhundertwende schon etwa | |
25 000 Eisenbahnerinnen gab. | |
In Großbritannien, dem Mutterland der Eisenbahn, waren | |
Stationsvorsteherinnen schon lange eine Selbstverständlichkeit. In Italien | |
wachten laut Kaufmann „aufgeklärte und intelligente Mitglieder des | |
Parlaments“ über deren Rechte, und in Frankreich forderten | |
Frauenrechtlerinnen für die Bahnhofsvorsteherinnen besondere Uniformen, | |
„ähnlich dem Sportkostüm der Radlerinnen“. | |
In Deutschland wurde „der erste weibliche Stationschef“ 1903 eingestellt, | |
allerdings nicht bei der Staatsbahn: Die am 1. Dezember 1903 eingeweihte | |
Eulengebirgsbahn in der preußischen Provinz Schlesien, wo an mehreren | |
Stationen zwischen Reichenbach und Wünschelburg (Streckenlänge 62 | |
Kilometer) erstmals Frauen das Sagen hatten, gehörte einer | |
Aktiengesellschaft. „Die Staatsbahn hat sich noch nicht zu einer Anstellung | |
einer Stationsvorsteherin entschließen können“, kommentierte Kaufmann | |
sarkastisch. Bei den Löhnen gab es allerdings auch im fortschrittlicheren | |
Frankreich einen deutlichen gender pay gap. Bei gleicher Leistung | |
verdienten Frauen „500 Francs weniger“, berichtet Kaufmann. | |
Nachdem die Berlinerin Minna Neumann, Fahrkartenverkäuferin am Schlesischen | |
Bahnhof, als Einzelkämpferin mit ihrer Petition für höhere Löhne im | |
Abgeordnetenhaus auf taube Ohren gestoßen war, machte sie sich auf die | |
Suche nach Gleichgesinnten. Nach „eifriger Werbetätigkeit“, wie sie später | |
in einem Artikel für das Verbandsorgan Die Eisenbahnbeamtin erzählt, kam es | |
im Oktober 1905 zur Gründung eines Vereins. | |
Bis zu seiner Auflösung durch das NS‑Regime kämpfte der „Verband der | |
Eisenbahnbeamtinnen der preußisch‑hessischen Staatseisenbahn“ für sichere | |
Frauenarbeitsplätze und gleiche Rechte. Am 24. März 1933, einen Tag nach | |
der Verabschiedung des sogenannten Ermächtigungsgesetzes, das den Rechts- | |
und Verfassungsstaat auf einen Schlag beseitigte, schwor der | |
Generaldirektor der Reichsbahn Julius Dorpmüller seine Belegschaft darauf | |
ein, ihre „volle Kraft“ für die „nationale Regierung“ einzusetzen. | |
Jüdische und gewerkschaftlich organisierte Eisenbahnerinnen und Eisenbahner | |
wurden entlassen, der Eisenbahnerinnenverband wurde aufgelöst und in den | |
ausschließlich von Männern geleiteten „Bund deutscher Reichsbeamte“ | |
integriert. Im Juni 1933 erschien die letzte Ausgabe der Eisenbahnbeamtin. | |
Im Januar 1937 übernahm Dorpmüller zusätzlich zu seinem Amt als | |
Bahndirektor das Verkehrsministerium. Fortan arbeitete die Reichsbahn in | |
„Räumungs- und Judenangelegenheiten“, wie die Nazis die Deportation der | |
jüdischen Bevölkerung in die Arbeits- und Vernichtungslager auf | |
Beamtendeutsch verbrämten, mit der SS zusammen. | |
## Kriegsbedingter Personalmangel bei der Reichsbahn | |
Nach 1939 führte der kriegsbedingte Personalmangel auch bei der Bahn zu | |
einem sprunghaften Anstieg der weiblichen Beschäftigtenzahlen, so dass Ende | |
1943 schon 190 000 Frauen bei der Reichsbahn arbeiteten. Für ihren „Einsatz | |
im Dienst der Kriegswirtschaft“ verlieh der stellvertretende | |
Generaldirektor der Deutschen Reichsbahn, Albert Ganzenmüller, im Oktober | |
1944 den ersten 30 Frauen die brandneue „Dienstnadel für deutsche | |
Eisenbahnerinnen“ in Bronze, Silber und Gold. | |
Im Zuge der „Entnazifizierung“ kam es unmittelbar nach dem Krieg zunächst | |
zu einer Entlassungswelle. Da aber wie überall auch bei der Eisenbahn | |
Arbeitskräfte für den Wiederaufbau gebraucht wurden, spielte die Frage der | |
Mittäterschaft bei NS‑Verbrechen bald keine Rolle mehr. In Berlin übernahm | |
die Sowjetische Militäradministration die Verwaltung des Reichsbahnverkehrs | |
für die gesamte Stadt und zahlte den weiblichen Angestellten bei gleicher | |
Leistung den gleichen Lohn wie ihren männlichen Kollegen. Während in den | |
Westzonen Frauenarbeit als Übergangslösung galt – die US‑Alliierten wollt… | |
zunächst sogar verheiratete Beamtinnen entlassen –, konnten sich die | |
Eisenbahnerinnen in der Sowjetischen Besatzungszone (SBZ) von Anfang an | |
weiterqualifizieren. | |
Diese krasse Ungleichbehandlung setzte sich nach der Gründung der beiden | |
deutschen Staaten fort. Leisteten Frauen bei der Deutschen Bundesbahn (DB) | |
vorwiegend Büro- und Reinigungsarbeiten oder wurden reisenden | |
Geschäftsmännern in den 1950er Jahren in anzüglich illustrierten | |
Werbebroschüren zur „Erledigung privater und geschäftlicher Korrespondenz“ | |
als „Zugsekretärinnen“ angedient, konnten sie bei der Deutschen Reichsbahn | |
(DR), wie die Bahn in der DDR merkwürdigerweise immer noch hieß, | |
berufsbegleitend an der Ingenieursschule für Eisenbahnwesen studieren. | |
Zwischen 1967 und 1980 betrug der Frauenanteil bei der westdeutschen Bahn | |
kontinuierlich um die 5 Prozent, wohingegen bei der Deutschen Reichsbahn | |
schon 1965 ein Viertel der Beschäftigten weiblich war. Nach der | |
Wiedervereinigung wurden die Arbeitsbedingungen den westdeutschen | |
Verhältnissen angepasst. Während die Kinderbetreuungseinrichtungen der DR | |
abgebaut wurden, behauptete die Deutsche Bahn AG drei Jahre nach der Wende: | |
„Die Bahn wird immer frauenfreundlicher: Lokführer – früher der Traumberuf | |
vieler Jungs – muß heute selbst für Mädchen kein Traum bleiben.“ | |
## Krummrücken vom Fahrradfahren? | |
Auch in der Pionierzeit der beiden neuen Verkehrsmittel Fahrrad und Auto | |
waren Frauen anfangs eine Besonderheit. Aus männlicher Sicht wurde das | |
nicht selten als Zumutung empfunden, wenn sie Rad fuhren oder sich selbst | |
hinter das Steuer eines Autos setzten, und teilweise mit | |
pseudowissenschaftlichen Begründungen bekämpft. Jedenfalls war sich die | |
ärztliche – männliche – Zunft zunächst uneins, ob Radfahren für Frauen | |
gesundheitsfördernd oder -schädlich sei, also zum Beispiel unfruchtbar | |
macht oder zu irreversiblen Haltungsschäden (Krummrücken) führt. | |
Tatsächlich trugen Frauen am Ende des 19. Jahrhunderts nicht nur zur | |
massenhaften Verbreitung des Fahrrads bei – in Deutschland etwa wurden 1896 | |
mehr Damen- als Herrenräder produziert –, sondern sie spielten auch in der | |
Frühgeschichte des Automobils (1886 bis 1914) eine wichtige Rolle. | |
Im Jahr 1888 legte Berta Benz die erste Fernfahrt (106 Kilometer von | |
Mannheim nach Pforzheim) mit einem Automobil zurück, und Louise Sarazin | |
schloss mit Gottlieb Daimler nach dem Tod ihres Mannes Edouard einen | |
Lizenzvertrag für den französischen Markt ab. Die US‑Amerikanerin Mary | |
Anderson ließ 1903 den mechanischen Scheibenwischer patentieren und um 1900 | |
boomte die künstlerische Plakatwerbung mit Frauen auf Fahrrädern und | |
hinterm Steuer. | |
1913 reisten die britischen Suffragetten nicht nur im Zug zum | |
Internationalen Frauen‑Stimmrecht‑Kongress nach Budapest, sondern auch mit | |
dem Auto. Die mit politischen Bannern behängten Wagen hinterließen auf der | |
Durchreise, etwa in Wien, einen nachhaltigen Eindruck. | |
## Statussymbol der modernen Frau mit Bubikopf | |
Als die Opel‑Werke 1924, elf Jahre nach Ford, das erste Modell in Serie | |
anfertigten, arbeiteten in Deutschland bereits viele Frauen als | |
Verkäuferinnen im Automobilhandel, was eine gewisse Technikkompetenz | |
voraussetzte. In der Weimarer Republik wurde die „Selbstfahrerin“, wie die | |
Frauen genannt wurden, die sich nicht von einem Chauffeur herumkutschieren | |
ließen, zum Medienliebling und das Auto zum Statussymbol der modernen Frau | |
mit Bubikopf. | |
Die Zeitschrift Die Dame gab regelmäßig ein Automobilheft heraus, bekannte | |
Schauspielerinnen ließen sich in ihren Cabriolets fotografieren, und | |
Modedesigner kreierten die passenden Modelle: Automäntel, Gesichtsschleier | |
in allen Farben und bequeme Dessous aus pflegeleichtem Batist. | |
War die Bekleidung der Selbstfahrerinnen mehr oder weniger Modesache, ging | |
es bei den Radfahrerinnen, die im Straßenbild ungleich sichtbarer waren, um | |
für damalige Verhältnisse geradezu revolutionäre Fragen – Rock oder Hose? | |
Korsett oder Büstenhalter? –, die in den Frauenfahrradzeitschriften | |
Draisena (1895 bis 1900) und Die Radlerin (1896 bis 1901) ausführlich | |
behandelt wurden. | |
Viele zeitgenössische Frauenrechtlerinnen, von Lily Braun bis Frances E. | |
Willard, betrachteten das Fahrrad als „starken Emanzipator“ (Braun 1901 in | |
ihrem Buch „Die Frauenfrage“), das „mehr für die Emanzipation der Frau | |
getan hat als irgendetwas anderes auf der Welt“ (Susan B. Anthony 1896 in | |
einem vielzitierten Interview in der New York World). Hinzuzufügen wäre | |
allerdings, dass Fahrräder anfangs ein Luxusobjekt waren, das sich eine | |
einfache Angestellte oder Arbeiterin kaum leisten konnte. | |
## Importräder aus den USA | |
Das änderte sich erst, als ab 1898 amerikanische Importräder schon für 80 | |
bis 90 Mark angeboten wurden, während die deutschen Fabrikate immer noch | |
zwischen 170 bis 210 Mark kosteten.Als um 1910 die „Spezialräder“ auf den | |
Markt kamen, die weniger aufwendig und außerhalb der Saison produziert | |
wurden, konnte man schon für 28 Mark ein neues Rad erwerben. Gleichzeitig | |
florierte schon seit Längerem ein Markt für Gebrauchträder. | |
In den folgenden Jahren wandelte sich das Fahrrad vom bürgerlichen | |
Statussymbol und Sportgerät („Stahlross“) zum wichtigsten | |
Fortbewegungsmittel der Arbeiterklasse, das in Filmen wie „Kuhle Wampe | |
oder: Wem gehört die Welt?“ (1932, Regie: Slatan Dudow, Drehbuch: Bertolt | |
Brecht) verewigt wurde. | |
Während sich immer mehr Arbeiterinnen auf ihre „Drahtesel“ schwangen, | |
gründeten die Ehefrauen von Politikern und Unternehmern gegen die | |
Automobilklub‑Kultur der „Herrenfahrer“, wo sie allenfalls als | |
Begleiterinnen geduldet waren, 1926 den ersten | |
Deutschen‑Damen‑Automobil‑Club (DDAC). | |
## Erika Mann ließ sich zur Automonteurin ausbilden | |
Im Vergleich zu dem Frauenbahnverband, der vor allem für gleiche Rechte am | |
Arbeitsplatz kämpfte, war der DDAC zwar ein Freizeitverein, dessen | |
Mitglieder in Illustrierten wie der Eleganten Welt oder der Dame | |
publizierten. Doch ging es auch hier um weibliche Selbstbestimmung. Und | |
dazu gehörte, dass die girldrivers ihre Wagen im Notfall auch selbst | |
reparieren konnten. So ließ sich etwa die Schriftstellerin Erika Mann, die | |
mit ihrem Ford unter anderem an zweiwöchigen, sehr anstrengenden Rallyes | |
teilnahm und ihre Artikel darüber am Telefon diktierte, vor einer | |
Marokkoreise zur Automonteurin ausbilden. | |
„Es könnte auf meine liebevollste Teilnahme und Fürsorge rechnen, wenn es | |
mal Mucken hätte“, schrieb die junge Schauspielerin und Rennfahrerin Rut | |
Landshoff in ihrem ersten Beitrag für Die Dame geradezu zärtlich über ihr | |
weißes 6‑Zylinder‑Adler‑Cabriolet mit hellblauem Lederverdeck. „Aber e… | |
immer strahlend gesund. So halte ich mich an den Pannen anderer Leute | |
schadlos, denn ich muss doch irgendeine Verwendung für meine mühsam | |
errungenen technischen Kenntnisse haben.“ | |
Frauen wie die Pionierin der Rennstrecken‑Analyse Eliška Junkova oder | |
Clärenore Stinnes, die von 1927 bis 1929 mit dem Auto erstmals die Welt | |
umrundete, waren zwar Ausnahmeerscheinungen, aber eben auch Vorbilder. Mit | |
ihren Zeitschriftenartikeln und Reiseberichten erreichten sie ein nicht zu | |
unterschätzendes Publikum junger Frauen, die nach Freiheit und | |
Unabhängigkeit dürsteten. | |
25 Oct 2020 | |
## AUTOREN | |
Dorothee D'Aprile | |
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