# taz.de -- Corona-Entwicklung in Deutschland: Warnung vor neuem Lockdown | |
> Bund und Länder einigen sich auf Maßnahmen, die selbst der Kanzlerin | |
> nicht weit genug gehen. Die Zahl der Neuinfektionen steigt erstmals auf | |
> über 6.600. | |
Bild: Sorge hinter Masken: Müller, Merkel und Söder bei der Pressekonferenz n… | |
BERLIN dpa/rtr/afp/taz | Angesichts steigender Corona-Infektionen haben | |
sich Bund und Länder nach achtstündigen Verhandlungen auf neue | |
Einschränkungen geeinigt. Kanzlerin Angela Merkel und die 16 | |
Ministerpräsidenten beschlossen am Mittwoch im Kanzleramt | |
Kontaktbegrenzungen für alle Regionen, in denen die Zahl der | |
Corona-Neuinfektionen über 50 Fälle pro 100.000 Einwohner in einer Woche | |
hinausschießt. Schon bei einer Zahl ab 35 Fällen sollen erste Maßnahmen | |
greifen. Sowohl Merkel als auch Bayerns Ministerpräsident Markus Söder | |
(CSU) und Berlins Regierender Bürgermeister Michael Müller (SPD) warnten | |
davor, dass die Coronalage – wie in einigen Nachbarstaaten – außer | |
Kontrolle geraten könnte. | |
„Sollte ein zweiter Lockdown kommen, würde dies den Wohlstand des Landes | |
fundamental gefährden“, warnte der CSU-Chef. „Deutschland kann sich einen | |
zweiten Lockdown nicht leisten“, sagte Merkel mit Hinweis darauf, dass der | |
Bund bereits in diesem Jahr 200 Milliarden Euro Schulden aufnehme, um die | |
Coronafolgen bewältigen zu können. „Wir sind bereits in der exponentiellen | |
Phase“, warnte die Kanzlerin. | |
Das zeigt auch die Zahl der Neuinfektionen. Sie erreichte am | |
Donnerstagmorgen einen neuen Rekordwert. Die Gesundheitsämter meldeten nach | |
Angaben des Robert-Koch-Instituts 6.638 Neuinfektionen binnen 24 Stunden – | |
rund 1.500 mehr als am Mittwoch. Bislang waren Ende März mit knapp 6.300 | |
Neuinfizierten die meisten registriert worden. Allerdings sind die jetzigen | |
Werte nicht mit denen aus dem Frühjahr vergleichbar, weil mittlerweile | |
wesentlich mehr getestet wird – und damit auch mehr Infektionen entdeckt | |
werden. | |
Am Mittwoch vergangener Woche hatten die Gesundheitsämter dem RKI 4.059 | |
Neuinfektionen mitgeteilt. Damit war zum ersten Mal seit April die 4.000er | |
Marke überschritten worden. [1][Auch die Zahlen der Intensivpatienten und | |
der Coronatoten sind in den letzten Tagen wieder deutlich gestiegen]. | |
## Merkel unzufrieden | |
Es bleibt somit fraglich, ob die Beschlüsse von Bund und Ländern angesichts | |
der aktuellen Lage ausreichend sind. Merkel zeigte sich in den Beratungen | |
im Kanzleramt nach Informationen der Deutschen Presse-Agentur mit den | |
Beschlüssen unzufrieden. „Die Ansagen von uns sind nicht hart genug, um das | |
Unheil von uns abzuwenden“, sagte die CDU-Politikerin nach | |
übereinstimmenden Angaben von Teilnehmern. „Es reicht einfach nicht, was | |
wir hier machen.“ | |
Nach der Sitzung betonte Merkel, ob die Beschlüsse reichen oder nicht, | |
werde man sehen. „Deshalb ist meine Unruhe mit dem heutigen Tag noch nicht | |
weg.“ Beunruhigt sei sie vom exponentiellen Anstieg der Infektionen. „Den | |
müssen wir stoppen. Sonst wird es in kein gutes Ende führen.“ Merkel machte | |
deutlich, dass sich ihre Unzufriedenheit vor allem auf die umstrittenen | |
Beherbergungsverbote bezieht. | |
Konkret vereinbarten die Kanzlerin und die Ministerpräsidenten dies: | |
MASKENPFLICHT: In Städten und Regionen mit stark steigenden Corona-Zahlen | |
soll die Maskenpflicht erweitert werden. Sie soll ab 35 Neuinfektionen je | |
100.000 Einwohner in sieben Tagen auch überall da gelten, wo Menschen | |
dichter beziehungsweise länger zusammenkommen. | |
PRIVATE FEIERN: In Regionen mit einem Wert über 35 Neuinfektionen soll es | |
eine Begrenzung von 25 Teilnehmern im öffentlichen und 15 Teilnehmern im | |
privaten Raum geben. Ab 50 Neuinfektionen pro 100.000 Einwohner in sieben | |
Tagen sollen private Feiern auf maximal 10 Teilnehmer im öffentlichen Raum | |
sowie auf höchstens 10 Teilnehmer aus höchstens zwei Hausständen im | |
privaten Raum begrenzt werden. | |
KONTAKTBESCHRÄNKUNGEN: Übersteigen die Neuinfektionen den 50er Wert, dürfen | |
sich künftig nur noch maximal 10 Personen im öffentlichen Raum treffen. | |
Sollten die neuen Maßnahmen den Anstieg nicht zum Stillstand bringen, wird | |
dies auf bis zu 5 Personen oder die Angehörigen zweier Hausstände | |
verringert. | |
SPERRSTUNDE: Ebenfalls bei 50 Neuinfektionen pro 100.000 Einwohner in | |
sieben Tagen soll eine Sperrstunde um 23.00 Uhr für die Gastronomie | |
verhängt werden. Bars und Clubs sollen geschlossen werden. | |
VERANSTALTUNGEN: Wird der 50er Wert überschritten, wird die Zahl der | |
Teilnehmer bei Veranstaltungen auf 100 Personen begrenzt. Ausnahmen | |
bedürfen eines mit dem zuständigen Gesundheitsamt abgestimmten | |
Hygienekonzepts. | |
BEHERBERGUNGSVERBOTE: Die Beherbergungsverbote für Urlauber aus | |
innerdeutschen Risikogebieten waren vor den Beratungen am umstrittensten. | |
Bund und Länder fanden auch im Kanzleramt keine Einigung und vertagten das | |
Thema erst einmal bis zum 8. November. Bis dahin soll diese Maßnahme auf | |
ihre Wirksamkeit überprüft werden. | |
Bund und Länder forderten aber eindringlich alle Bürger auf, nicht | |
erforderliche innerdeutsche Reisen in Gebiete hinein und aus Gebieten | |
heraus zu vermeiden, die die Grenze von 50 Neuinfektionen pro 100.000 | |
Einwohner innerhalb der letzten sieben Tage übersteigen. | |
Mecklenburg-Vorpommern, Schleswig-Holstein, Brandenburg, Sachsen-Anhalt und | |
Hamburg wollen wohl zunächst bei der Regelung bleiben. Die Schweriner | |
Ministerpräsidentin Manuela Schwesig (SPD) denkt aber über Lockerungen | |
nach. Sie kündigte an, zu prüfen, ob auf die mindestens fünftägige | |
Quarantäne und die Pflicht zu einem Test danach künftig verzichtet wird. | |
Die meisten Bundesländer hatten am vergangenen Mittwoch beschlossen, dass | |
Bürger aus Orten mit sehr hohen Corona-Infektionszahlen bei Reisen | |
innerhalb von Deutschland nur dann beherbergt werden dürfen, wenn sie einen | |
höchstens 48 Stunden alten negativen Coronatest vorlegen können. Greifen | |
soll dies für Reisende aus Gebieten mit mehr als 50 Neuinfektionen pro 100 | |
000 Einwohner binnen sieben Tagen. | |
Die Kanzlerin und die Ministerpräsidenten waren erstmals seit Juni wieder | |
persönlich zusammengekommen und berieten nicht nur per Videokonferenz. Das | |
Treffen stand unter dem Eindruck massiv steigender Infektionszahlen in | |
Deutschland und zum Teil noch dramatischerer Entwicklungen bei vielen | |
europäischen Nachbarn. | |
## Ausgangssperren in Frankreich | |
[2][So verhängt Frankreich erstmals seit dem Frühjahr wieder | |
Ausgangssperren]: In Corona-Hotspots wie Paris, Marseille, Lyon und fünf | |
weiteren Städten dürfen die Menschen ihre Häuser zwischen 21 Uhr und 6 Uhr | |
morgens ab diesem Wochenende nur noch im Ausnahmefall verlassen, wie | |
Präsident Emmanuel Macron am Mittwochabend im Fernsehen ankündigte. | |
In den Niederlanden gilt ab Mittwochabend ein „Teil-Lockdown“ – Bars, Caf… | |
und Restaurants müssen schließen und dürfen Speisen und Getränke nur noch | |
zum Mitnehmen anbieten. Zwischen 20.00 Uhr und 7.00 Uhr dürfen kein Alkohol | |
und Cannabis mehr verkauft oder öffentlich konsumiert werden. Die | |
Niederländer dürfen nur noch drei Besucher pro Tag bei sich zu Hause | |
empfangen. Zudem gilt künftig in öffentlichen Räumen eine Maskenpflicht. | |
[3][Auch in Tschechien sind Bars und Restaurants seit Mittwoch | |
geschlossen]. Zudem gilt ein generelles Alkoholverbot im öffentlichen Raum. | |
Treffen werden auf maximal sechs Teilnehmer beschränkt, der Unterricht in | |
den Grundschulen findet – ebenso wie bereits in den weiterführenden Schulen | |
und Universitäten – nur noch digital statt. | |
## „Nicht fünf vor zwölf, sondern zwölf“ | |
Der Leiter der Abteilung System-Immunologie am Helmholtz-Zentrum für | |
Infektionsforschung in Braunschweig, Michael Meyer-Hermann, warnte bei dem | |
Treffen im Kanzleramt eindringlich vor einem Kontrollverlust bei den | |
Infektionen. „Es ist nicht fünf vor zwölf, sondern zwölf, um das Schiff | |
noch zu drehen“, sagte er laut Teilnehmern im Kanzleramt. Deutschland stehe | |
an der Schwelle zu einem exponentiellen Wachstum. | |
Merkel rief nach dem Treffen die Menschen in Deutschland zu einer gemeinsam | |
Kraftanstrengung auf: „In dieser entscheidenden kritischen Phase des | |
Herbstes ist es ganz, ganz wichtig, dass alle auch mitmachen weiter.“ Die | |
Kanzlerin betonte: „Auch ökonomisch können wir uns eine zweite Welle, wie | |
wir sie im Frühjahr hatten mit solchen Folgen, nicht leisten.“ | |
Berlins Regierungschef Michael Müller (SPD) betonte, Deutschland befinde | |
sich jetzt in einer sehr entscheidenden Phase: „Es steht jetzt viel auf dem | |
Spiel.“ Bayerns Ministerpräsident Markus Söder (CSU) sah zwar Fortschritte | |
durch die Beschlüsse. „Aber ob das reicht, ist meiner Meinung nach offen. | |
Wir sind dem zweiten Lockdown eigentlich viel näher, als wir das wahrhaben | |
wollen.“ Die zweite Coronawelle sei bereits da. Die Situation jetzt sei | |
fast gefährlicher als im Frühjahr, weil nun der Winter bevorstehe, warnte | |
Söder, der zugleich dazu aufrief, durch die Beschränkungen wieder „vor die | |
Welle“ zu kommen. | |
15 Oct 2020 | |
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