# taz.de -- Höflicher Umgang miteinander: Eine seltene Blume | |
> Höflichkeit im Alltag ist selten geworden. Besonders unhöflich ist der | |
> Straßenverkehr. Das zeigt zum Beispiel der Konflikt um den Ohlsdorfer | |
> Friedhof. | |
Bild: Schluss mit Durchfahrt: das neue Schrankensystem auf dem Ohlsdorfer Fried… | |
Mir fehlt die Höflichkeit, aber sie wird als etwas angesehen, was altbacken | |
und überflüssig ist, reaktionär? Höflichkeit ist kaum noch Bestandteil von | |
Erziehung. Man findet sie nicht, wenn man in die Bahn steigt, nicht, wenn | |
man im Supermarkt ansteht, und schon gar nicht in Internetforen. Das ist | |
natürlich nicht wahr. Man findet sie noch, aber sie ist eine seltene Blume | |
geworden. | |
Letztens verfolgte ich auf der Seite einer muslimischen Frau eine sehr | |
höfliche Diskussion über die Notwendigkeit des Kopftuchtragens, und ich | |
fühlte mich wie in einer anderen Welt, in der die Menschen respektvoll | |
miteinander umgehen, obwohl sie unterschiedlicher Meinung sind. Da ist es | |
mir bewusst geworden, wie sehr ich diese Art des Umgangs vermisse. Manchmal | |
begegnet sie mir unverhofft. Ein chinesisches Paar möchte sich zu mir an | |
den Tisch setzen, höflich fragen sie, höflich danken sie, mit | |
zusammengelegten Händen, geneigtem Kopf und freundlichem Lächeln. Wie gut | |
das tut. Wie gut ich mich behandelt fühle. Ich wäre sofort bereit, etwas | |
für sie zu tun. | |
Ich glaube, dass es ein modernes Misstrauen gegen die Höflichkeit gibt, | |
weil sie als etwas Künstliches angesehen wird, als eine Art nutzloser | |
Verstellung. Die Höflichkeit, die ich meine, ist aber nicht künstlich, sie | |
muss zutiefst verinnerlicht sein, Bestandteil des Menschseins. Sie zeigt: | |
Ich sehe dich und respektiere dich. Ich lasse dir Raum. Sie unterscheidet | |
sich von der zweckdienlichen Höflichkeit, die anderen Menschen | |
entgegengebracht wird, weil man etwas von ihnen erwartet. Das ist | |
eigentlich gar keine Höflichkeit, sondern angepasstes Verhalten. | |
Die Unhöflichkeit unserer deutschen Gesellschaft erschreckt und deprimiert | |
mich jeden Tag, sie ist eine Art kleine Barbarei. Auf diese Weise fügen wir | |
uns gegenseitig Wunden zu, verwundet laufen wir durch die Gegend und wollen | |
uns ständig rächen. | |
Besonders unhöflich ist der Straßenverkehr. Dort wird täglich Hass | |
produziert, es wird gedrängelt, gepost, gemaßregelt, gedroht und | |
provoziert. Schlimmer geht es nur noch in den Kommentarleisten zu Beiträgen | |
über Veganismus, Polizeigewalt oder Corona-Maßnahmen zu. | |
Ich erzähle das jetzt alles, weil ich mich gerade wieder sehr geärgert | |
habe, über die Auseinandersetzung um den Friedhof Ohlsdorf. Ich nutze | |
selber Friedhöfe, um spazieren zu gehen. Dort ist es meistens ruhig und | |
besinnlich und das mag ich. | |
Ich gehe gern auf dem Friedhof am Diebsteich spazieren, da ärgern mich | |
allerdings manchmal die Hundebesitzer, die ihre Hunde unbeaufsichtigt ihre | |
Haufen machen lassen. Das ist unhöflich. | |
Und dann fahre ich auch ab und zu auf den Friedhof Ohlsdorf, der ein sehr | |
großer und außergewöhnlich schöner Friedhof ist. Wären da nicht die Autos, | |
die an einem vorbeirasen. Ja, die Autos rasen an einem vorbei, das habe ich | |
selbst erlebt. Die meisten Besucher*innen könnten vielleicht das Fahrrad | |
nehmen, oder mit dem Bus fahren, der auf dem Friedhof verkehrt. Nur für | |
sehr alte oder gehbehinderte Menschen, oder welche mit kleinen Kindern ist | |
das vielleicht keine Option. Aber sonst? Mit dem Auto durch den Friedhof | |
fahren? Wirklich? Wo Menschen trauern, wo die Toten liegen, wo Menschen | |
Ruhe und Besinnung suchen? | |
Gegen den unerwünschten Straßenverkehr wurde jetzt eine Schranke | |
angebracht, und die Straßennutzung auf Friedhofsbesucher beschränkt. Die | |
Durchfahrenden sollen draußen bleiben. Und die Durchfahrenden sind empört. | |
Weil die Durchfahrenden eben vor allem eines wollen: durchfahren. Durch | |
Städte, durch Dörfer, durch Wälder, überall wollen sie vor allem eines: | |
durchfahren. Und das ist anmaßend, das ist rücksichtslos, das ist | |
unhöflich. Man fährt nicht durch einen Friedhof, weil ein Friedhof nicht | |
für Durchfahrende da ist, er steht ihnen nicht zu, er ist für die | |
Trauernden und ein Ort der Ruhe. Wer das nicht begreift, wer keinen Respekt | |
vor solchen Orten hat, der ist nichts anderes als ein kleiner Barbar. | |
23 Oct 2020 | |
## AUTOREN | |
Katrin Seddig | |
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