# taz.de -- Gespräch mit Ex-Botschafter in Moskau: „Wichtig ist, ruhig zu bl… | |
> Rüdiger von Fritsch wurde 2014 deutscher Botschafter in Russland. Ein | |
> Gespräch über die Kunst der Diplomatie und Zeichnungen in Putins | |
> Notizblock. | |
Bild: Rüdiger von Fritsch bei Verhandlungen zwischen Merkel und Putin im Jahr … | |
taz am wochenende: Herr von Fritsch, wenn dieses Gespräch ein Treffen | |
zwischen zwei Diplomaten wäre, wie würden wir anfangen? Mit Smalltalk? | |
Rüdiger von Fritsch: Wenn ich als deutscher Botschafter meinen | |
französischen Kollegen treffe, ist das ein anderes Gespräch, als wenn ich | |
zu Zeiten der Krim-Annexion den Abteilungsleiter im russischen | |
Außenministerium spreche. Innerhalb der Europäischen Union gibt es eine | |
große Offenheit. Mit dem französischen Kollegen klopft man gleich ab, wo | |
decken sich unsere unterschiedlichen Interessen, wo nicht. Gleichzeitig | |
habe ich – jetzt das Jahr 2014 als Beispiel – im Hinterkopf, dass | |
Frankreich Russland ganz gern noch zwei Flugzeugträger verkauft hätte. Das | |
gehört dazu, das zu wissen. | |
Und wie ist das mit Ihren russischen Kollegen? | |
Professionell und natürlich vielfach auch menschlich habe ich meine | |
russischen Kollegen immer sehr geschätzt. Was sie auszeichnete: Sie waren | |
immer exzellent vorbereitet. Wenn Sie da selbst nicht die Themen bis in die | |
kleinsten Details kennen, werden Sie schnell vorgeführt. Atmosphärisches | |
ist aber auch wichtig. Der außenpolitische Berater von Wladimir Putin, der | |
extrem wenig Zeit hat, hat mich zunächst immer gefragt: Wie geht es Ihnen? | |
Ist Ihre Arbeit in Moskau schwer? Dann ist man aber schnell bei | |
hochkontroversen Fragen. Sie können in solchen Gesprächen Dinge sagen, die | |
sie öffentlich nie wiederholen würden. Das muss auch möglich sein. Sie | |
sagen da nicht „Sie lügen gerade“, aber wenn sie aufzeigen, wie die | |
Wahrheit von Ihrem Gegenüber ständig verdreht wird, ist schon klar, was Sie | |
meinen. | |
Höflichkeit ist in der Diplomatie aber nach wie vor wichtig? | |
Sehr wichtig. Weil Sie sich offenhalten müssen, noch weiterzugehen. Wenn | |
Sie von vornherein draufhauen, haben Sie schnell Ihr Pulver verschossen. | |
Also antworten Sie, wenn Sie einen absurden Vorschlag bekommen: „Ich werde | |
das gern nach Berlin weitergeben“, fügen aber hinzu: „Gestatten Sie mir | |
eine persönliche Einschätzung. Ich kann mir nicht vorstellen, dass man | |
davon sehr begeistert sein wird.“ | |
Sie haben im April 2014 als deutscher Botschafter in Moskau angefangen, | |
mitten in der Ukrainekrise und kurz nach der Annexion der Krim. Wenn sich | |
ein Land einen Teil eines anderen einverleibt, ist aber Schluss mit | |
Höflichkeit, oder? | |
Eine Situation, die durch militärisches Eingreifen in einem Nachbarland | |
bestimmt ist, lässt nur ganz wenig Raum dafür. Sie bekommen eine Kaffee | |
angeboten, aber über den hinweg streiten Sie sich. Es ist dann die Aufgabe | |
der Diplomatie, trotzdem dafür zu sorgen, dass nicht alles | |
auseinanderläuft. Dass jeder vom anderen weiß, wo er steht, was rote Linien | |
sind. Und darauf zu achten, dass es weiter die Möglichkeit zum Dialog gibt. | |
Wobei man sehen muss: „Aber wir müssen doch miteinander reden“ – das ist | |
richtig, aber auch leicht dahergesagt. In bestimmten Situationen ist das | |
eben sehr schwer umzusetzen. | |
Wie haben Sie das damals erlebt? | |
Es war eine politisch extreme Situation. Dass Russland gegen alle | |
vereinbarten Regeln verstoßen hatte, zeigte sich auch in der Reaktion | |
meiner Gesprächspartner: Zum Repertoire der russischen Führung gehört es, | |
wenn man etwas angerichtet hat und es Kritik gibt, doppelt so hart | |
zurückzuschlagen. Jedes Gespräch, das ich führte, war angefüllt mit | |
Vorwürfen. Wir seien an allem schuld! Was wir schon alles angerichtet | |
hätten! Ich hatte manchmal den Eindruck, wir seien auf der Krim | |
einmarschiert. Man rechtfertigt eigenes Fehlverhalten damit, dass andere | |
auch schon Fehler gemacht hätten. Ein fantastisches Prinzip! Wenn wir | |
danach vorgehen würden, wäre internationale Politik praktisch unmöglich. | |
Wichtig ist, dass Sie ruhig bleiben und die Anwürfe nicht persönlich | |
nehmen. Sie werden da ja in Ihrer Funktion beschimpft, nicht als Mensch. | |
Aber wie verhandelt man mit jemandem, der sagt: Schwarz ist weiß? Sie saßen | |
da Gesprächspartnern gegenüber, die behaupteten, es gebe keine russischen | |
Soldaten auf der Krim oder im Donbass, obwohl beide Seiten wussten, dass | |
das gelogen war. | |
Irgendjemand hat mal gesagt: Politik ist 20-mal die gleiche Mauer hoch | |
klettern. 19-mal fällt man runter, beim 20. Mal kommt man rüber. In einer | |
solchen Situation darf man einfach nicht aufgeben. Sie können da nichts | |
anderes machen, als sich nicht beirren zu lassen, die Wahrheit zu belegen | |
und immer wieder darauf zu beharren. Später hat die russische Seite ja | |
eingeräumt, dass sie Soldaten auf der Krim und im Donbass eingesetzt hat. | |
Erkennen Sie Parallelen zur aktuellen Krise im deutsch-russischen | |
Verhältnis wegen des [1][Giftanschlags auf Alexei Nawalny]? | |
Auch hier wird alles abgestritten. Und es werden Zweifel gestreut mit der | |
Frage: Wer weiß schon, wer das war? Vielleicht jemand, den Nawalnys | |
Korruptionsrecherchen störten? Ich halte es für ausgeschlossen, dass so | |
etwas im heutigen Russland passiert, ohne dass man im Kreml davon weiß. | |
Andernfalls hätte man zumindest unmittelbar darauf reagiert. Wie wir sehen, | |
hat es aber keine entsprechende Reaktion gegeben. Deshalb muss man davon | |
ausgehen, dass es mit Wissen des Kremls geschehen ist. Jeder, der so etwas | |
auf eigene Rechnung und ohne Zustimmung Putins unternehmen würde, würde | |
erhebliche persönliche Konsequenzen riskieren. | |
Was sich viele fragen: Warum nimmt man da ausgerechnet das Nervengift | |
Nowitschok? Ist das nicht zu offensichtlich? | |
Das höre ich oft. Und dann folgt meist der Satz: „Dieser Anschlag ist doch | |
gar nicht in Russlands Interesse.“ Dieser Einwand, mit Verlaub, ist sehr | |
deutsch. | |
Wie meinen Sie das? | |
Die Logik der russischen Führung ist eine andere. Nehmen wir mal den | |
[2][Fall Skripal]. Der russische Geheimdienst vergiftet im März 2018 in | |
England einen Ex-Agenten und seine Tochter mit Nowitschok. Drei Monate, | |
bevor in Russland die Fußball-WM angepfiffen werden soll. Da denken die | |
meisten: „Das gibt’s doch nicht. Die riskieren ja, dass alles abgesagt | |
wird.“ Die Überlegung, welche negativen Auswirkungen das haben könnte, ist | |
bei den russischen Entscheidungsträgern aber nicht entscheidungsleitend. | |
Für sie ist entscheidend: „Wir senden starke Botschaften. Und hässliche | |
Botschaften. Wir machen keine klammheimlichen Geschichten, sondern wir | |
machen es sichtbar und auf dramatische Weise.“ Mit Polonium bei Alexander | |
Litwinenko, der 2006 einen qualvollen Tod gestorben ist. Mit Nowitschok bei | |
Sergei Skripal. Und jetzt bei Alexei Nawalny. | |
Wie beurteilen Sie eigentlich die Rolle [3][Gerhard Schröders], gerade | |
jetzt auch im Fall Nawalny? | |
Seine jüngsten Äußerungen fand ich fatal. Er betreibt das Geschäft der | |
russischen Propaganda, wenn er nach dem Motto „Wer weiß, wer das war …“ … | |
russische Verantwortung infrage stellt. Die Dinge liegen in diesem Fall so | |
offen auf dem Tisch, und es gibt so viele vergleichbare Fälle aus der | |
Vergangenheit, dass das einfach absurd ist. | |
Aber von Schröder hat man eigentlich auch nichts anderes erwartet. | |
Von europäischen Partnern, vor allem von osteuropäischen Partnern, ist mir | |
in Moskau seine Rolle oft vorgehalten worden. Sie können dann nur | |
antworten: Jeder ist frei, seine Wege zu gehen. Aber es denkt sich | |
natürlich jeder seinen Teil. | |
Alexei Nawalny kritisiert Schröder schon lange, weil er in Moskau als | |
Beispiel dafür gelte, dass jeder im Westen käuflich sei. Dass es immer nur | |
eine Frage des Preises sei. | |
In der russischen Führung gibt es tatsächlich die Vorstellung: Eigentlich | |
kann man sich jeden kaufen. Diese Weltsicht mag davon geprägt sein, dass | |
viele führende Personen aus Geheimdienstkreisen kommen. Das hat auch eine | |
große Rolle gespielt, als man 2014 die Krim annektiert hat. Ich habe da | |
immer wieder gehört: „Ihr Krämerseelen im Westen, euch bekommen wir schon | |
auseinanderdividiert.“ Sprich: Wir kaufen euch mit euren Handelsinteressen. | |
Das hat dann nicht ganz geklappt. | |
Das Gegenteil ist der Fall gewesen: Wir sind in der EU in der | |
Russlandpolitik einig – bis heute. Ich war mir selbst nicht so sicher, ob | |
diese Reaktion so funktioniert, aber sie hat gut funktioniert und die | |
Geschlossenheit hält mittlerweile sechs Jahre. Die Europäische Union ist | |
manchmal viel besser, als man denkt. Es war eine schwere Fehleinschätzung | |
der russischen Politik, dass man nicht mit dieser entschiedenen Reaktion | |
gerechnet hatte. | |
In dieser Woche hat sich die EU auf [4][neue Sanktionen gegen Russland] | |
wegen des Falls Nawalny verständigt. Die richtige Reaktion? | |
Geplant sind Listungen von sechs Verantwortlichen und einer Organisation. | |
Hier wird rechtskonform und zugleich politisch vorgegangen. Indem man | |
Personen oder eine Organisation listet, nutzt man Sanktionen so, wie ich es | |
für sinnvoll halte: nämlich als ein politisches Mittel, nicht als ein | |
Strafinstrument, bei dem man versuchen würde, möglichst breit draufzuhauen. | |
Die jetzt beschlossenen Sanktionen sind dazu da, zurückgenommen zu | |
werden, wenn sich das Verhalten der anderen Seite ändert. Und die | |
Sanktionen müssen – und das ist nicht so einfach – auch einer gerichtlichen | |
Überprüfung standhalten. Jeder Betroffene darf vor einem europäischen | |
Gericht dagegen klagen, auch jeder russische Staatsbürger. | |
Im Donbass wird weiter gekämpft, die Krim ist weiter von Russland besetzt. | |
Bei den bisherigen Sanktionen hört man deshalb oft … | |
… die bringen doch gar nichts. Ja, dieses Argument habe ich oft gehört. | |
Dass Sanktionen wirken, hat Wladimir Putin aber selbst bewiesen, als er die | |
Türkei nach dem Abschuss eines russischen Kampfflugzeugs an der Grenze zu | |
Syrien in einem Maße sanktioniert hat, wie es für uns unvorstellbar wäre | |
und vor keinem deutschen Gericht Bestand hätte. Keine russischen Touristen | |
mehr in der Türkei, keine türkischen Agrarimporte, keine türkischen | |
Bauunternehmungen in Russland, bis Erdoğan in die Knie ging und sich für | |
den Abschuss entschuldigte. Wer also sagt, die europäischen Sanktionen in | |
Russland bringen nichts, wirbt eigentlich dafür, noch härter | |
durchzugreifen. Es sei denn, er ist überhaupt dagegen, etwas im | |
Zusammenhang mit der Annexion der Krim zu tun. Und jeder, der so | |
argumentiert, muss sich fragen lassen: Was ist denn die Alternative? | |
Was können die Sanktionen bestenfalls erreichen? | |
Sie zielen nicht darauf ab, die politischen Verhältnisse in einem anderen | |
Land zu verändern. Es geht um dreierlei: eine bestimmte Politik zu | |
verändern, rote Linien zu ziehen und Entschlossenheit zu zeigen, wenn | |
fundamentale Prinzipien eines friedlichen Miteinanders verletzt sind. Es | |
gibt Belege dafür, dass die Androhung weiterer Sanktionen in der | |
Ukrainekrise dazu geführt hat, dass der Kreml vor bestimmten Schritten | |
zurückgeschreckt ist. Hätten wir gar nicht reagiert, wo würden wir heute in | |
Europa stehen? Wäre Kiew heute noch eine ukrainische Stadt? Das ist | |
natürlich Spekulation. Aber gar nicht zu reagieren, hätte sicher zu einer | |
anderen Wirklichkeit geführt, als wir sie heute haben. | |
Auch wenn die allermeisten Länder die Annexion nicht anerkennen, ist es | |
nicht so, dass sie sie stillschweigend akzeptiert haben? Dass sie sich | |
damit abgefunden haben? | |
Ich halte es für ahistorisch zu sagen: Daran können wir nichts mehr ändern. | |
Die Sowjetunion hatte im Ergebnis des Hitler-Stalin-Pakts 1940 die | |
baltischen Staaten annektiert. Westliche Länder, später auch die | |
Bundesrepublik, haben entschieden, das nach dem Zweiten Weltkrieg nicht | |
anzuerkennen. Ich kann mich noch an Debatten in den 70er und 80er Jahren | |
erinnern, als es hieß: „Was soll das heute noch? Da haben die Letten immer | |
noch eine Botschaft in London, das ist doch Quatsch!“ Aber als nach 1989 | |
diese Staaten plötzlich wieder ihren eigenen Weg gehen konnten, war ein | |
wesentlicher Ausweis ihrer Legitimität, dass die Völkergemeinschaft diese | |
Annexionen nie anerkannt hatte. | |
Sie setzen auf die langen Linien. | |
Ich habe russischen Kollegen, die mir gesagt haben: „Die Krim rücken wir | |
nie mehr raus“, oft geantwortet: „Erich Honecker hat im Januar 1989 auch | |
gesagt, die Mauer steht noch in 100 Jahren.“ Geschichte ist lang und | |
windungsreich, und nur weil sich aktuell etwas nicht ändern lässt, sollten | |
wir nicht etwas akzeptieren, das wir nach unseren Vorstellungen für | |
grundlegend falsch halten. | |
Ist der russische Außenminister Sergei Lawrow eigentlich der härteste | |
Gegner, auf dem man bei internationalen Verhandlungen treffen kann? | |
Das kann ich nicht sagen, dazu fehlen mir die Vergleichsgrößen. Lawrow ist | |
aber auch deshalb oft so hart, weil er das, was er als die offizielle Linie | |
des Kremls kennt, maximal vertreten muss. In Putins Regierung ist er als | |
russischer Außenminister eher Vollzieher von Politik als Mitgestalter. Er | |
kann sich nicht sicher sein, wo sein Präsident morgen steht. Deshalb muss | |
er sehr entschieden die von oben vorgegebene Position vertreten – und | |
notfalls am nächsten Tag das Gegenteil. | |
Sie beschreiben ihn in ihrem gerade erschienenen Buch aber auch als | |
jemanden mit Sinn für Schöngeistiges. | |
Sein Sinn dafür ist bekannt. Und in diesen offiziellen Gesprächen | |
beobachtet man genau die Details des Auftretens. Wenn es länger geht, malt | |
Wladimir Putin manchmal Kästchen und streicht sie dann wieder durch. Lawrow | |
hingegen kalligrafiert. Ich erinnere mich an ein Gespräch, in dessen | |
Verlauf er auf Kyrillisch in vollendeter Schönschrift die Buchstaben B – R | |
– D malte. | |
In Ihrem Buch argumentieren Sie, dass der russischen Außenpolitik eine | |
größere Strategie fehle. | |
Zumindest hat sich mir keine erschlossen. Es gibt Parameter des | |
außenpolitischen Handelns: Russland darf nicht gedemütigt werden, es hat | |
ein Recht, in anderen Ländern mitzureden – nach solchen Kriterien richtet | |
man sein Vorgehen dann aus. Dabei erweist man sich taktisch oft als | |
exzellent, nur ohne dass ein größeres Szenario erkennbar wird. Napoleon hat | |
mal gesagt: „On s’engage et puis … on voit.“ – „Man zieht in die Sc… | |
und dann schaut man weiter.“ So handelt Russland heute oft. Das ist auch | |
der Unterschied zur Sowjetunion. Es geht nicht mehr darum, dass Angola | |
kommunistisch wird. Es geht nicht mehr darum, weltweit eine Ideologie | |
durchzusetzen. | |
Für das Verhalten Russlands heute wird oft angeführt, es sei nach 1989 | |
verletzt und gedemütigt worden. Auch wenn das mehr ein Gefühl ist, als dass | |
es auf Fakten beruht, schafft das doch seine eigene Wirklichkeit. | |
„Ja, aber man muss die Russen doch verstehen …„ – diesen Satz habe in | |
Deutschland immer wieder gehört. Verstehen hat hier so etwas | |
Entschuldigendes. Es wird mit Billigen gleichgesetzt. Ein großer Irrtum. | |
Verstehen ist elementar, um friedlich miteinander leben zu können, aber das | |
heißt nicht, alles gutzuheißen, was der andere tut. Insofern muss man aber | |
auch eine empfundene Demütigung in Russland verstehen – denn diese | |
Empfindung ist real. Sie speist sich aus dem Verlust von Macht und Größe, | |
den man auf keinen Fall eigenem Versagen zuweisen will. Der Kollaps des | |
sowjetischen Systems, das an seinen eigenen Widersprüchen zerbrochen ist, | |
wird lieber damit erklärt, dass der Westen dahintersteckte. | |
„Der Zusammenbruch der Sowjetunion war die größte geopolitische Katastrophe | |
des 20. Jahrhunderts“, hat Putin einmal gesagt. | |
Wir haben die vergangenen 30 Jahre ganz anders erlebt als sehr viele | |
Russen. Aus westlicher Sicht machten sich 1989 freie Völker auf ihren | |
selbstbestimmten Weg. Die Deutschen, die Polen und andere. Aus russischer | |
Sicht bedeutete 1989 und die Folgen einen ungemeinen Machtverlust. Nicht | |
nur die Staaten des Warschauer Pakts machten ihr eigenes Ding, sondern die | |
Sowjetunion brach auseinander – und damit letztlich auch das alte russische | |
Reich, das letzte Kolonialreich auf Erden. Das Baltikum, Zentralasien, der | |
Kaukasus – alle gingen ihre eigenen Wege, und viele schlossen sich | |
westlichen Bündnissen wie der EU oder der Nato an. Henry Kissinger hat das | |
mal einen „Phantomschmerz“ genannt, den man ernst nehmen muss. | |
Wie macht man das dann in den Verhandlungen um die Ukraine? | |
Man sagt etwa: „Ich kann sehr gut nachvollziehen, dass ihr die jüngere | |
Geschichte anders erlebt habt als wir. Es gibt aber Behauptungen, die | |
einfach nicht zutreffen: Wir haben uns nie verabredet, dass die EU oder die | |
Nato nicht ausgeweitet werden dürfen.“ Das wird ja immer wieder | |
kolportiert. Das letzte hilflose Argument dazu hat Putin selbst | |
vorgetragen, als er gesagt hat, Gorbatschow habe damals einfach vergessen, | |
das aufzuschreiben, deshalb sei es nirgends fixiert. Aber so schlecht ist | |
russische Diplomatie nicht, dass sie vergisst, etwas aufzuschreiben, was | |
nur irgendeine Bedeutung hat. | |
Manche Kritiker sagen, die außenpolitische Debatte in Deutschland sei zu | |
sehr moralisch aufgeladen. | |
Das hat historische Gründe, und das finde ich richtig. Bestimmte Dinge | |
dürfen uns nie mehr passieren. Es ist nur die Frage, ob man dadurch | |
mitunter zu einem „Am deutschen Wesen soll die Welt genesen“ in neuer Form | |
kommt. Ein Beispiel: Als ich Botschafter in Warschau war – in der Zeit von | |
Donald Tusk als Ministerpräsident –, feierte man einen nationalen | |
Gedenktag. Da sollte es rechte Trachtenumzüge geben. Weil die polnische | |
Antifa, die das verhindern wollte, schwach war, bat sie die Berliner Antifa | |
um Hilfe. Die mieteten vier Busse und kamen nach Warschau. Und schnell | |
hatten wir 92 deutsche Jugendliche in U-Haft, weil die als Erstes begonnen | |
hatten, die Polizei aufzumischen. Davor hatte es in Polen eine | |
differenzierte Debatte gegeben, danach hatte ich als deutscher Botschafter | |
das Land geschlossen gegen mich: „Wie kommt ihr dazu, uns zu erklären, wie | |
wir unsere Gedenktage zu feiern haben? Und junge Deutsche in schwarzer | |
Kleidung haben wir noch ganz gut in Erinnerung.“ Das ist ein extremes | |
Beispiel: Aber man merkt manchmal gar nicht, wie man anderen da auch sein | |
moralisches Bessersein überstülpt. | |
18 Oct 2020 | |
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