# taz.de -- Apfelernte im Alten Land: Die Früchte der Arbeit | |
> Rund 3.500 Erntehelfer*innen, vor allem aus Polen und Rumänien kommen in | |
> dieser Saison ins Alte Land. Wie sind ihre Arbeitsbedingungen? | |
Bild: Müssen noch gepflückt werden: Äpfel | |
HAMBURG taz | Stellenanzeigen für Erntehelfer*innen bei Ebay Kleinanzeigen | |
lesen sich so: „Neben einer leistungsorientierten Bezahlung erwartet dich | |
eine angenehme Arbeitsatmosphäre.“ Voraussetzung seien „die Bereitschaft | |
zur 6-Tage-Arbeit“, genau wie körperliche Belastbarkeit. Denn egal, welches | |
Obst oder Gemüse geerntet wird, das Bücken, Strecken, Stechen, Pflücken und | |
Sammeln schießt ins Kreuz und in die Knie. | |
Im Alten Land, dem größten geschlossenen Obstanbaugebiet Europas, hängen | |
gerade leuchtend rote Äpfel in den Baumreihen. Sonntagsfahrer*innen auf dem | |
Weg zum Deich zuckeln hinter den schmalen Treckern her, die auf Anhängern | |
in Holzkisten Apfelberge zu ihren Lagern transportieren. | |
Mit Leitern muss heute niemand mehr in die Zweige steigen, um Holsteiner | |
Cox, Elstar oder Boskop zu pflücken. Die Bäume sind so gezüchtet, dass sie | |
nicht viel größer als die Männer werden, die sie bewirtschaften. Wenn sie | |
noch jung sind, hängen an den wenigen kurzen Zweigen trotzdem Dutzende | |
Früchte. Man fragt sich, wie die kleinen Bäumchen ihr Gewicht tragen | |
können. | |
Im Obstanbau ist heute alles auf Effektivität getrimmt – auch die Ernte. | |
Pflücker*innen kommen aus Rumänien oder Polen. Sie leben in der Regel in | |
Wohncontainern, teilen sich darin ein Zimmer. Das Bild, Landarbeiter*innen | |
kämen bei den Familien unter, für die sie arbeiten, und säßen abends mit | |
ihnen am gedeckten Abendbrotstisch, entstammt der Vergangenheit. | |
## Die Apfelernte ist in vollem Gange | |
Aber wie leben Erntehelfer*innen tatsächlich? Sind unbezahlte Überstunden | |
und überbelegte Unterkünfte die Regel oder die Ausnahme? Ist die Situation | |
der Menschen im Alten Land mit der von Leiharbeiter*innen in anderen | |
Branchen vergleichbar? | |
Darauf gibt es, je nach Gesprächspartner*in unterschiedliche Antworten. | |
Ulrich Buchterkirch steht in Gummistiefeln im Nieselregen, als er das | |
Telefonat mit der taz führt. Die Apfelernte ist in vollem Gange. Eigentlich | |
hat er nicht viel Zeit, aber er nimmt sie sich, weil er das Gefühl hat, | |
dass er etwas klarstellen muss. | |
Es stört ihn offensichtlich, dass es nach den [1][Skandalen in der | |
Schlachtindustrie] jetzt auch Nachfragen zur Situation im Obstanbau gibt: | |
„Es tut einem weh, mit anderen Branchen in eine Ecke gestellt zu werden“, | |
sagt er. Es gebe einen „himmelweiten Unterschied: Wir haben im Alten Land | |
vor allem kleine Familienbetriebe.“ Und da bestehe immer eine Nähe zu den | |
Arbeiter*innen. | |
Buchterkirch ist Vorsitzender der Fachgruppe Obstbau des [2][Landvolks | |
Niedersachsen]. Auf seinem Hof in Kehdingen arbeiten 30 Erntehelfer*innen, | |
die meisten aus Polen, ein paar aus Rumänien. „Die kommen zum | |
Geldverdienen“, sagt er, „aber auch, weil sie gerne kommen.“ | |
Ein Erntehelfer habe in diesem Jahr 30-jähriges Jubiläum. Normalerweise | |
würde das gefeiert, aber in diesem Jahr sei wegen Corona alles anders. | |
Wegen des strengen Hygienekonzepts könnten auch das gemeinsame Grillen zur | |
Halbzeit der Ernte und das Fest am Ende nicht stattfinden. | |
## Ohne Erntehelfer ist der Landwirt nichts | |
Es sei kein Einzelfall, sondern die Regel, dass die Helfer*innen jedes Jahr | |
wiederkommen und neue Kräfte in ihrem Freundes- und Familienkreis anwerben. | |
„Wir gehen sechs Wochen durch Dick und Dünn, auch bei Scheißwetter“, sagt | |
Buchterkirch. 1.500 Tonnen Äpfel ernten sie. Für ihn sei es eine | |
Selbstverständlichkeit, seine Angestellten vernünftig unterzubringen. „Wir | |
haben Ferienhäuser umgerüstet.“ | |
Das sei auch deshalb wichtig, weil die Erntehelfer*innen, wenn sie mit den | |
Arbeits- und Lebensbedingungen nicht zufrieden seien, einfach wieder | |
zurückführen, sagt der Landwirt. „Meine Leute wissen alle, ich bin ohne sie | |
nichts.“ | |
Aldona Kucharczuk nimmt die Situation bei der Apfelernte anders wahr. Sie | |
berät EU-Bürger*innen bei der Servicestelle Arbeitnehmerfreizügigkeit in | |
Hamburg in Fragen des Arbeitsrechts und hilft ihren Klienten dabei, ihre | |
Rechte vor Gericht durchzusetzen. | |
Einfach zurückfahren könnten Arbeiter*innen aus Polen oder Rumänien nicht, | |
wenn ein Landwirt sie über den Tisch gezogen habe oder die Unterkunft | |
heruntergekommen sei. „Schon der Sprit ist eine Investition. Die müssen | |
tausend Kilometer in eine Richtung machen“, sagt Kucharczuk. | |
Pro Saison meldeten sich zwei bis drei Arbeiter*innen bei ihr. Sie | |
berichteten davon, dass sie den Mindestlohn von 9,35 Euro nicht bekämen, | |
dass in ihren Verträgen stehe, dass sie 20 Stunden pro Woche arbeiteten, | |
dann aber 80 Stunden lang Äpfel pflückten, dass ihnen ein Großteil des | |
Geldes schwarz in bar ausgezahlt werde und sie nichts für die Rente | |
einzahlen könnten oder sie sich das nötige Werkzeug, zum Beispiel für das | |
Beschneiden der Bäume, selbst kaufen müssten. Kucharczuk rattert das | |
runter. Sie könnte noch mehr Beispiele aufzählen. | |
## Die Gewerkschaft ist nicht präsent | |
Dass es nur so wenige Arbeiter*innen seien, die sich Hilfe bei ihr suchten, | |
habe mehrere Gründe. „Auch wenn sie hier nicht den Mindestlohn bekommen, | |
entspricht es wahrscheinlich immer noch drei Monatsgehältern in Polen“, | |
sagt die Beraterin. Die Menschen seien glücklich, dass sie Geld verdienten. | |
Und selbst wenn sie merkten, dass ihnen Unrecht getan werde, „wissen sie | |
nicht, wo sie Hilfe bekommen“. | |
Denn auch die zuständige Gewerkschaft IG BAU (Bauen-Agrar-Umwelt) ist im | |
Alten Land nicht präsent, Saisonarbeiter*innen kennen sie nicht. „Für uns | |
ist es ein Problem, dass sie keine Mitglieder sind“, sagt | |
Gewerkschaftssekretärin Katharina Bergmann. Für Erntehelfer*innen, die nach | |
einer Saison wieder in ihr Heimatland fahren, ist das nicht attraktiv. In | |
diesem Jahr habe die IG BAU deshalb erstmals Mitgliedschaften auf Zeit | |
vergeben. „Das funktioniert gut“, sagt Bergmann. „Die Betroffenen haben | |
dann auch Rechtsschutz.“ | |
Der Bedarf sei da, meint auch sie. „Es gibt immer Arbeitgeber, die | |
versuchen, den Mindestlohn zu drücken.“ | |
Ulrich Buchterkirch vom Landvolk sind solche Fälle von Lohndumping nicht | |
bekannt. Von Landwirt*innen, die ihre Mitarbeiter*innen zu viert in einem | |
Containerzimmer unterbrächten, hat er aber schon gehört. Da habe Corona | |
aber auch etwas Gutes gehabt. Die Abstandsregelungen hätten „bei dem einen | |
oder anderen schwarzen Schaf dazu geführt, dass es weiß geworden ist“. | |
Mehr zur Apfelernte im Alten Land und der Region drumherum lesen Sie im | |
aktuellen Nord-Schwerpunkt der taz am Wochenende oder am [3][E-Kiosk.] | |
26 Sep 2020 | |
## LINKS | |
[1] /Peter-Kossen-ueber-die-Fleischindustrie/!5347407 | |
[2] https://landvolk.net/ | |
[3] /Unser-eKiosk/!114771/ | |
## AUTOREN | |
Andrea Maestro | |
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