# taz.de -- Alltag eines Erntehelfers: Pflücken, Netflix, schlafen | |
> Saisonarbeiter Yevhenii Bespalov ist zufrieden mit seinem Job bei der | |
> Apfelernte, obwohl er Geld für die Fahrten zur Plantage abdrücken muss. | |
Bild: Empfindet die Arbeit nicht als schwer: Yevhenii Bespalov | |
Bliedersdorf taz | Um eine skurrile Kulisse zu kreieren, braucht es in | |
Niedersachsen nicht viel. Zunächst wäre eine sonnige Naturlandschaft auf | |
einer Apfelplantage irgendwo zwischen Harsefeld und Horneburg nicht | |
schlecht. Ruhe wirkt immer trügerisch. Dazu sechs Menschen, die Sonnencreme | |
für überschätzt halten („Das ist nur gut für den Strand.“) Und so tragen | |
sie stolz die Male ihrer Arbeit auf der Haut: Tätowierungen der Sonne, an | |
altbekannten Tatorten wie Wangen, Ohrenspitzen und Gliedern, wo die Grenzen | |
zwischen Stoff und Haut vom Sonnenbrand ganz klar gezeichnet sind. | |
„Bewundere mich, denn ich arbeite in der Landwirtschaft“: Anderen Menschen | |
würde es genügen, sich diesen Spruch auf T-Shirts drucken zu lassen. | |
Der Kontrast zwischen roten Menschen und grünem Hintergrund wird untermalt | |
durch einen amerikanische Rapper, der über soziale Ungerechtigkeit reimt. | |
Seine Stimme tönt durch einen Handylautsprecher von einer Tonqualität, die | |
irgendwo zwischen Happy-Meal-Spielzeug und Supermarkt-Durchsage liegt. „Das | |
hören wir hier manchmal, wenn wir nebenbei arbeiten“, sagt Yevhenii | |
Bespalov. | |
Über ein Work-’n’-Travel Programm ist der 20-jährige Ukrainer zur diesem | |
Job als Erntehelfer gekommen. Er ist damit einer von 3.500 | |
Saisonarbeiter*innen dieses Jahr, die im Alten Land arbeiten. Bespalov | |
möchte Unternehmer im Bereich Computertechnik werden, für ein Studium an | |
der polytechnischen Universität in der Ukraine zahle er etwa 1.000 Euro pro | |
Semester. Hier erarbeitet er sich das Geld dafür. | |
Seinen Kindheitstraum, Kosmonaut oder Polizist zu werden, hat Bespalov | |
verworfen. Er hält sich die Finger an die Schläfe, tut so, als würde er | |
abdrücken und formt mit dem Mund eine Röhre, aus der ein lautloses „Puff“ | |
ertönt. In einer Behörde der Ukraine zu arbeiten, sei für ihn Verrat. „Da | |
kann ich mir gleich die Kugel geben“, sagt er und lächelt bitter. | |
Er verschwindet im Gebüsch der Apfelbäume, als er wieder auftaucht, wirft | |
er zwei, drei Äpfel in eine der großen Holzkisten, die auf einem | |
Traktorwagen befestigt sind und anschließend in ein Kühllager transportiert | |
werden. Dabei sortiert er feste, glatte Äpfel in eine große Kiste und | |
verformte, vernarbte in eine kleinere. Die vernarbten sind für | |
Billigdiscounter vorgesehen, die sie zu niedrigeren Preisen verkaufen. | |
Jonas Cohrs, der Leiter des Obsthofes, stellt sich dazu. Mit 27 Jahren | |
führt er den Hof in zweiter Generation. Er sei nie wirklich rausgekommen, | |
erzählt er. Was anderes als Landwirt wollte aber auch nie werden. Cohrs | |
trägt Jeans, seine Haare sind unter einer Cap versteckt. Er wirkt etwas | |
nervös, die Unterhaltung mit den Saisonarbeiter*innen findet auf Russisch | |
statt, und er versteht nicht, worum es geht. Ab und zu fragt er nach. Es | |
ist nicht selbstverständlich, dass er die taz auf seinen Hof lässt. Gerade | |
während der Pandemie. | |
Jeden Morgen werden die Saisonarbeiter*innen vom Hof aufs Feld gefahren. | |
Drei Minuten dauert die Fahrt, die Plantagen befinden sich in unmittelbarer | |
Nähe des Hofes und wären auch zu Fuß zu erreichen. „Die Erntearbeit ist | |
wirklich leicht“, sagt Bespalov. Es ist seine zweite Station im | |
Work-’n’-Travel-Abenteuer. Davor arbeitete er in Krefeld. Er kenne aber | |
härtere Jobs. In der Ukraine, in seiner Heimat Charkiw, unweit der | |
russischen Grenze, arbeitete er am Fließband einer Fabrik, die Polystyrol | |
herstellt. Bis zu 60 Stunden in der Woche für 50 Euro im Monat. „Klar, | |
kannst du auch mal 1.000 Euro in der Ukraine verdienen. Musste nur dein | |
Leben lang für arbeiten und mindestens Ingenieur oder so was sein.“ | |
9,35 Euro pro Stunde, Mindestlohn, bekäme er hier bei der Apfelernte. Davon | |
würden fünf Prozent Steuer abgezogen. „Wir müssen keine | |
Sozialversicherungsabgaben leisten, weswegen die Saisonarbeiter Brutto | |
gleich Netto bekommen“, erklärt Cohrs. | |
Durch die Coronapandemie erhielten systemrelevante Berufe, zu denen auch | |
die Landwirtschaft zählt, die Erlaubnis, Arbeiter*innen bis zu 60 Stunden | |
die Woche zu beschäftigen. Die Saisonarbeiter*innen kommen dadurch im Monat | |
auf ein Nettogehalt zwischen 1.800 und 2.400 Euro. Davon werden 250 Euro | |
für ein Mehrbettzimmer in einer Containerunterkunft und – trotz der kurzen | |
Wege – drei Euro Transportpauschale vom und zum Feld täglich abgezogen. | |
„Das hören wir hier oft“, sagt Daniela Klein von der Beratungsstelle für | |
mobile Beschäftigung in Oldenburg. „Jeder Bauer entscheidet selbst, was er | |
vom Gehalt abzieht.“ Die Beratungsstelle in Oldenburg, hinter der der | |
Deutsche Gewerkschaftsbund steht, unterstützt Beschäftigte aus Osteuropa, | |
insbesondere Rumänien. Neben dem Kreis Oldenburg ist sie auch für den Kreis | |
Stade verantwortlich, wo Bespalov beschäftigt ist. „Aus Stade haben uns | |
tatsächlich bisher keine Beschwerden erreicht“, sagt Klein. | |
Sie hat aber auch schon andere Erfahrungen gemacht, insbesondere bei der | |
diesjährigen Spargel- und Erdbeerernte, bei der ihr „komische“ | |
Lohnabrechnungen vorlagen, wonach weniger Stunden ausbezahlt wurden als | |
abgeleistet. Da die Saisonarbeiter*innen ihren Lohn erst erhalten, wenn sie | |
zurück in ihrer Heimat sind, gebe es da viel Betrug. „Wenn die Menschen | |
erst einmal wieder in ihrem eigenen Land sind, haben sie gar keine Handhabe | |
mehr“, sagt Klein. | |
Dass die meisten Saisonarbeiter*innen zufriedern sind, wundert Klein nicht: | |
„Kennen Sie das Durchschnittsgehalt in der Ukraine? Für Studenten ist das | |
hier verdiente Geld richtig viel. Dafür nehmen die dann auch mal | |
Widrigkeiten in Kauf.“ | |
Für Bespalov halten sich die Widrigkeiten in Grenzen. „Man kann hier nicht | |
viel tun. Wir sitzen morgens und abends auf dem Balkon und schauen der | |
Sonne beim Auf- und Untergehen zu.“ Nebenbei wird geraucht und der | |
Telefonspeicher mit Landschaftsfotos überstrapaziert. | |
Ein solches Bild mit Freunden oder der Familie zu teilen, ist eigentlich | |
keine große Sache, aber für die Männer und Frauen, die hier arbeiten, ist | |
es schwierig. Es gibt kein Internet in den Unterkünften. Bespalov und sein | |
bester Freund teilen sich nicht nur ein Zimmer, sondern auch eine | |
20-Gigabyte-Prepaid-Karte für Netflix. Doch was sind schon 20 Gigabyte, | |
wenn der Abend lang ist? „Es ist so bitter, wenn mitten in der Serie das | |
Volumen aufgebraucht ist“, sagt Bespalov. | |
In diesem Fall fahren die beiden in den Nachbarort, nach Harsefeld. Da sie | |
sowieso täglich drei Euro für den Transport zahlen müssen, dürfen sie mit | |
einem Pkw vom Hof zum Lidl einkaufen fahren, auch um ihr Handyguthaben | |
wieder aufzuladen. | |
## Kein Internet | |
Hofbauer Cohrs, sagt das Internet sei hier ohnehin sehr schlecht. Würde | |
eine Internetleitung vom Hof zu den Containern verlegt werden, brächte das | |
nur Nachteile für alle. „Man denkt, in so einem fortschrittlichen Land | |
sollte es eigentlich überall Internet geben. Hier auf dem Land wird man | |
aber häufig vergessen.“ | |
Um die Zeit auch ohne Internet totzuschlagen, sitzen Bespalov und sein | |
bester Freund häufig mit den Saisionarbeiter*innen aus Rumänien und Polen | |
zusammen. Verstehen würden sie einander zwar oft nur mit Händen und Füßen, | |
aber dafür sagt er: „Mit Rumänen ist es nie langweilig“, und grinst dabei. | |
Die Einhaltung der Coronaverhaltensregeln scheint nur schwer möglich, wenn | |
die Menschen hier nicht vereinsamen wollen. Laut einer Allgemeinverfügung | |
des Landkreises Stade aus dem März sollen Saisonarbeiter*innen möglichst in | |
Einzelzimmern untergebracht werden, und sie sollen die Gemeinschaftsräume | |
so nutzen, dass die Distanz gewährleistet ist. | |
Von Hamburg aus ist der Hof knapp 40 Kilometer entfernt. Ohne Auto bedeutet | |
das einen 20-minütigen Marsch querfeldein zur nächstgelegenen Bahnstation, | |
entlang einer unbeleuchteten Schnellstraße, zwei Zugfahrten von Ruschwedel | |
mit Umstieg in Buxtehude zum Hamburger Hauptbahnhof, und das Ganze für | |
knappe 15 Euro – allein eine Fahrt. | |
## Zu Hause ist die Containerunterkunft | |
Übersetzt bedeutet das: „Da bleiben wir lieber zu Hause.“ Als zu Hause | |
bezeichnet Bespalov die Containerunterkunft am Obsthof. Als Heimat hingegen | |
beschreibt er Dinge, die er in Deutschland vermisst: „Gretschnewaja | |
Kascha“, was so viel wie Buchweizengrütze bedeutet, gut geräucherten Fisch, | |
den es seiner Meinung nach in Deutschland nicht gibt und die Schokolade aus | |
dem Hause des ehemaligen Präsidenten Poroschenko, der in den 1990er-Jahren | |
mehrere Süßwarenfabriken erwarb und bis heute ein Monopol auf Schokolade | |
mit der gleichnamigen Marke „Roshen“ in der Ukraine besitzt. | |
„Der Präsident war scheiße. Aber die Schokolade ist gut“, sagt Bespalov u… | |
die anderen drei jungen Männer aus der Ukraine, alle zwischen 20 und 27, | |
stimmen ihm lachend zu. Sobald sie mal einen Ausflug nach Hamburg machen | |
können, wollen sie einen russischen Supermarkt aufsuchen. | |
In das Gelächter fällt von woanders Bespalovs Name: „Schenja!“, die | |
Kurzform von Yevhenii. Die verärgerte Stimme gehört einer Frau aus Polen, | |
deren Gesicht von einer tiefsitzenden Schirmmütze verdeckt wird. Seit 15 | |
Jahren kommt sie jedes Jahr zur Apfelernte auf diesen Hof. Geboren ist sie | |
in Stettin, nahe der deutschen Grenze. Auch ihre Tochter und ihre Söhne | |
hätten sie bereits hierher begleitet, um mit ihr gemeinsam die Apfelernte | |
zu bestreiten. Zuvor hatte sie in Spanien bei der Erdbeerernte geholfen. | |
Das war ihr aber zu weit weg von ihrer Heimat. | |
## Teueres Leben in Deutschland | |
„Hier bekommen wir viel mehr Geld dafür als in Polen“, sagt sie später, da | |
seien es nur zwei Euro die Stunde. In Deutschland bleiben wolle sie aber | |
nicht. Die Sprachbarriere und das teure Leben sprächen dagegen. Außerdem | |
warte da noch jemand auf sie zu Hause, sagt sie und lacht verlegen. | |
Jetzt aber spricht sie in schnellem Polnisch und energisch gestikulierend | |
in Richtung Bespalov. Der war beim Sammeln unaufmerksam geworden und hatte | |
ein paar Äpfel übersehen, wodurch die Frau, die einen blonden | |
Kurzhaarschnitt und den Namen Sophia trägt, nun doppelte Arbeit beim | |
Sammeln hat. „Gut, dass ich kein Polnisch spreche“, sagt Bespalov, „sonst | |
wäre ich jetzt bestimmt beleidigt.“ | |
Die erste 50-Meter-Reihe Apfelbäume ist geschafft. Bespalov wischt sich den | |
Schweiß von der Stirn und verteilt dabei Dreck im Gesicht, so dass er | |
aussieht wie ein Krieger. Einer, der sich jetzt eine Zigarettenpause | |
verdient hat. | |
28 Sep 2020 | |
## AUTOREN | |
Yevgeniya Shcherbakova | |
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