| # taz.de -- Antirassismus heute: Niemand ist ohne Makel | |
| > Eine unfertige Betrachtung darüber, was Antirassismus sein kann, woher | |
| > die allgemeine Unduldsamkeit rührt und was sich daran ändern ließe. | |
| Bild: Wer spricht über Camus, wenn sich Rassisten Waffenlager zulegen und übe… | |
| Es gibt diesen Moment, wenn man absichtslos in ein älteres Buch blickt und | |
| dann etwas findet, was immer da war, aber nicht gefunden wurde. So erging | |
| es mir dieser Tage mit zwei Werken von ikonografischem Rang. | |
| Bei Primo Levi, „Ist das ein Mensch?“, las ich: „Wer darauf gewartet hat, | |
| bis sein Nachbar mit Sterben zu Ende ist, damit er ihm ein Viertel Brot | |
| abnehmen kann, der ist, wenngleich ohne Schuld, vom Vorbild des denkenden | |
| Menschen weiter entfernt als der roheste Pygmäe (…)“. | |
| Kurz darauf Albert Camus, „Der Mensch in der Revolte“. Zu jenen, die keinen | |
| Begriff von Revolte haben können, schreibt Camus, zähle der „Primitive aus | |
| Zentralafrika“. | |
| Zwei großen Humanisten des 20. Jahrhunderts dient die Gestalt eines ihnen | |
| unbekannten Wesens aus [1][Afrika als Folie], um Maßstäbe zu entwickeln. | |
| Wie geriet ein Völkchen des Regenwalds in die gedankliche Nähe zu | |
| Auschwitz? Die Metapher ließe sich bei Primo Levi theoretisch einfach | |
| tilgen, ohne dass dies den Inhalt berührte – sie verweist schlicht auf den | |
| Umstand, dass Levi, der Überlebende, als italienischer Jude auch ein weißer | |
| Europäer war. | |
| Camus hingegen, der in Algerien geborene Franzose, definiert die Revolte | |
| gleich so, dass sie ein Merkmal „abendländischen Denkens“ ist, mit Sinn nur | |
| in der westlichen Gesellschaft. Er spricht vom Menschen im Allgemeinen, | |
| meint aber den Europäer. Ein exkludierender Universalismus, | |
| Taschenspielertrick von so vielen in unserem Fundus geachteter | |
| Intellektueller. | |
| Wer vors Bücherregal tritt, findet daran heute nur begrenzt noch Halt. | |
| Hannah Arendt, die Große, die Kluge: zum Rassismus einiges fragwürdig, mit | |
| blind spots gegenüber den Forderungen ihrer schwarzen US-Mitbürger. Und | |
| manche Sätze in „Elemente und Ursprünge …“ hätte ich lieber nicht gefu… | |
| Niemand ist ohne Makel. | |
| Um zu sehen, was man vorher nicht sah, bedarf es bereits des | |
| antirassistischen Initialfunkens; doch je mehr man dann sieht, desto | |
| schwerer fällt die Antwort, was Antirassismus eigentlich sein kann und | |
| wohin eine [2][Dekolonisierung des Denkens] führen wird. Weil sich | |
| Dimensionen auftun, gegenüber denen die Fragen von Brechts lesendem | |
| Arbeiter („Wer baute das siebentorige Theben?“) arg bescheiden wirken. | |
| Welche Fragen heute gestellt werden müssen, umreißt [3][Achille Mbembe] so: | |
| „Wie kommt es zu den Archiven der Menschheit? Wie kommt es, dass wir etwas | |
| wissen? Wofür steht Wissen? Woher wissen wir, dass wir es wissen? Woher | |
| wissen wir, dass wir es nicht wissen?“ Bei Mbembe ist die Dekolonisierung | |
| schon ins Planetarische getreten. Der portugiesische Soziologe Boaventura | |
| de Sousa Santos formuliert es so: keine globale soziale Gerechtigkeit ohne | |
| „kognitive Gerechtigkeit“. | |
| Die Architektur von Wissen zu dekonstruieren, Kulturgeschichte neu zu | |
| schreiben, das sind Ziele an einem sehr fernen Horizont. Aber sie können | |
| helfen, die Richtung zu peilen – und immer wieder die Ahnung zu tanken, um | |
| was für ein fantastisches großes Unterfangen es sich handelt, während die | |
| kleine graue Gegenwart mit [4][Bahnhofsumbenennungen] ringt. | |
| Die Entkolonisierung der Weltbetrachtung ist eine im Wortsinn unendliche | |
| Aufgabe. Wird sie vielleicht auch deshalb wenig in Angriff genommen, weil | |
| sichtbare Erfolge – weg mit dem XY-Wort – hier kaum zu haben sind? So nötig | |
| es ist, Beleidigendes zu entfernen und zu unterlassen: Mit wachsender | |
| Sensibilität wirkt ja immer mehr anstößig, auch für jene Weißen, zu denen | |
| ich mich zähle. Entsteht daraus unsere Nervosität, auch Unduldsamkeit? | |
| ## Im Licht stehen die Lauten und Schnellen | |
| Die antirassistische Bewegung wächst, aber unter Bedingungen, die | |
| intellektueller Behutsamkeit wenig zuträglich sind. Wer spricht über Camus, | |
| wenn sich Rassisten Waffenlager zulegen und über Polizei-Chats funken? | |
| Aktivismus folgt eigenen Gesetzen: Aufmerksamkeit gewinnen durch | |
| Skandalisierung kann nur gelingen, wenn Ambivalenzen gekappt werden. Und | |
| wer attackiert und bedroht wird, braucht einen Schutzgürtel aus | |
| Zustimmenden, aber das hat Folgen: Es fehlt an kritischer Spiegelung, an | |
| solidarischem Einspruch. | |
| Doch Urteile werden leicht ungerecht, eben weil die Angriffe von rechts und | |
| die Antworten darauf (in dieser Reihenfolge) so viel anderes übertönen. Im | |
| Licht stehen nur die Lauten. Und die Schnellen. Medien heizen als „Thema | |
| der Woche“ durch, wofür eine Lebenszeit nicht ausreicht. Und als ließe sich | |
| Zeit für eigenes Denken einsparen, werden Diskurse aus den USA kopiert, mit | |
| süffigen Weiß-Schwarz-Konturen. Ja, Blackness-Debatten sind verführerisch. | |
| Aber wir müssen schon Eigenes entwickeln, für die diffuseren Verhältnisse | |
| in einem Land, das immer auch das Land der Shoah bleibt. | |
| Sosehr Rassismus und Kolonialismus in ihrer Entstehungsgeschichte verwoben | |
| sind: Antirassismus und Dekolonisierung sind keineswegs deckungsgleich. Wer | |
| gegen Rassismus eintritt, will eine Gesellschaft gleicher Repräsentanz und | |
| Chancen – ohne Angst verschieden sein, das zu erreichen, wäre ja schon | |
| viel. Dass Dekolonisierung darüber hinausreicht und internationale | |
| Machtverteilungen meint, ist etwas aus dem Blick geraten, seitdem jede | |
| etablierte Institution ein „Decolonize!“ für die Handtasche macht. | |
| Tatsächlich verlässt hiesiges Sprechen und Schreiben über Rassismus | |
| erstaunlich selten den Rahmen westlichen Denkens. Afroamerikaner sind | |
| interessant, Afrika ist es eher nicht – oder nur als koloniales Opfer. Um | |
| jemanden zu finden, der sich für die Rolle afrikanischer Sprachen im | |
| postkolonialen Staat erwärmt, muss ich weit laufen. Muslime beteiligen sich | |
| nur marginal an der Debatte, obwohl sie, oszillierend zwischen Opfersein | |
| und historischen Täterschaften (Stichwort Sklavenhandel), viel einzubringen | |
| hätten. | |
| All dies kann geändert werden. Öffnen wir Räume und Denken – | |
| Salon-Antirassismus, das wäre dann kein Schimpfwort. | |
| 30 Sep 2020 | |
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| ## AUTOREN | |
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