# taz.de -- SPD-Politiker Frank Baranowski in Gelsenkirchen: „Leute glauben n… | |
> Gelsenkirchens Oberbürgermeister Frank Baranowski hört auf. Ein Gespräch | |
> über Altschulden als „tickende Zeitbombe“ und Integrationsprobleme als | |
> „Tabuthema“. | |
Bild: Seit 2004 Oberbürgermeister von Gelsenkirchen – nun ist Schluss: Frank… | |
taz: Herr Baranowski, Sie sind seit 16 Jahren Oberbürgermeister von | |
Gelsenkirchen, haben 2014 mit 67,4 Prozent das beste SPD-Ergebnis in ganz | |
NRW erreicht. Trotzdem treten Sie bei der Kommunalwahl am kommenden Sonntag | |
nicht mehr an. Warum? | |
Frank Baranowski: Ich will selbstbestimmt aus dem Amt scheiden. Mir ist es | |
wichtig, dass es eine Mehrheit schade findet, dass ich gehe. Als junger | |
Mensch habe ich die 16 Jahre Kanzlerschaft von Helmut Kohl als schrecklich | |
lang empfunden. 21 Jahre als Oberbürgermeister wären einfach zu viel | |
gewesen. | |
Hat Ihr Verzicht nicht auch mit der schwierigen Lage Gelsenkirchens zu tun? | |
Die Arbeitslosigkeit liegt bei über 16 Prozent, und mehr als 40 Prozent der | |
Kinder leben in Familien, die auf Hartz IV angewiesen sind? | |
Nein. Als ich 2004 Oberbürgermeister wurde, lag die Arbeitslosenquote durch | |
den Verlust Zehntausender Arbeitsplätze bei Kohle und Stahl bei 25 Prozent. | |
In meiner Amtszeit ist sie bis auf 12,3 Prozent gesunken. Bis 2015 waren | |
wir sehr erfolgreich. Danach hat sich die Situation aber verschärft. Der | |
Zuzug von Geflüchteten und Menschen aus Südosteuropa setzt uns massiv unter | |
Druck. | |
Wieso das denn? | |
Wir werden von Bund und Land alleingelassen. Mit dem Strukturwandel hat | |
Gelsenkirchen mehr als ein Drittel seiner Einwohner verloren. Wohnungen | |
sind deshalb bezahlbar. Das zieht Menschen an, die nicht viel Geld haben. | |
Aktuell leben mehr als 18.000 Migranten aus Südosteuropa und Geflüchtete | |
bei uns – das verschärft die Rahmenbedingungen. | |
Inwiefern? | |
Natürlich wollen wir den Menschen ein Integrationsangebot machen, | |
Kindergartenplätze bereitstellen und die Schulpflicht durchsetzen – aber | |
das kostet: Allein bei den Geflüchteten bleiben die Städte in NRW auf einem | |
Finanzloch von insgesamt 750 Millionen Euro sitzen. Und von den | |
Armutsmigranten aus Südosteuropa redet in Bund und Land erst recht niemand. | |
Gelsenkirchen hat mehr als 1,4 Milliarden Euro Schulden. Sind Sie nicht | |
enttäuscht, dass Olaf Scholz als Bundesfinanzminister keinen | |
Altschuldenfonds für von Deindustrialisierung gebeutelte Städte | |
durchgesetzt hat? | |
Gut ist schon mal, dass sich der Bund jetzt mit 75 Prozent an den Kosten | |
der Unterkunft, also [1][den Wohnungskosten für Hartz-IV-Empfänger und | |
Asylsuchende], beteiligt. Aber: Natürlich fehlt eine Regelung für | |
Altschulden, die nach dem Wegfall hunderttausender Arbeitsplätze durch hohe | |
Sozialhilfekosten angehäuft wurden – nicht nur im Ruhrgebiet. Die | |
Altschulden sind eine tickende Zeitbombe. Dass die nicht entschärft wird, | |
liegt an der fehlenden Solidarität im Süden der Republik – und am | |
mangelnden Engagement von CDU-Ministerpräsident Armin Laschet, der gar | |
nicht ernsthaft verhandelt hat. | |
Kann es sein, dass Sie auch aus Frust über die miesen Umfragewerte der SPD | |
nicht mehr antreten? In Bund und Land liegt Ihre Partei nur noch bei 18 bis | |
21 Prozent – [2][hinter den Grünen]. | |
Nein. Die ernste Lage der SPD hätte mich höchstens bewegen können | |
weiterzumachen. | |
Hat die Partei nicht einfach den Kontakt zur Basis verloren? In der | |
SPD-Bundestagsfraktion gibt es nur noch zwei Arbeiter. | |
Um die Parteibasis zu vertreten, muss man nicht Arbeiter sein – aber man | |
muss ein Verständnis für die Bedürfnisse vor Ort haben. Leider wird uns oft | |
keine Problemlösungskompetenz mehr zugerechnet. Mit anderen Worten: Die | |
Leute glauben nicht mehr an uns – etwa wenn ein Stadtquartier durch | |
Migration unter Druck gerät und sich Nachbarschaften verändern. | |
Und mit dem Thema Migration soll die SPD aus dem tiefen Tal kommen, von dem | |
Parteichef Saskia Esken spricht? | |
Ich maße mir nicht an, eine einfache Lösung zu haben. Klar ist aber: Die | |
SPD ist als Volkspartei unersetzlich – sei es für eine soziale | |
Wirtschaftspolitik, sei es bei umsetzbaren Umwelt- und Verkehrskonzepten. | |
Vor allem aber müssen wir über die Dinge reden, die die Leute vor Ort | |
beschäftigen – selbst wenn es nur darum geht, dass neu Zugezogene den Müll | |
einfach in den Garten werfen oder bis tief in die Nacht laut draußen | |
feiern. In unseren Sitzungen sind das allzu oft Tabuthemen. Allerdings: Ein | |
alleiniges Problem der SPD ist das nicht. Im politischen Alltagsgeschäft | |
werden Dinge wie Migration, Integration und deren Finanzierung viel zu oft | |
nicht zu Ende diskutiert, weil schon wieder das nächste Thema durchs Dorf | |
gejagt wird. | |
9 Sep 2020 | |
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## AUTOREN | |
Andreas Wyputta | |
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