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# taz.de -- Debütalbum von Postpunk-Band: „Ich finde Dich nicht in der Disco…
> Kratzige Gitarre, bellen oder nicht bellen. Die Hamburg-Berliner
> Postpunk-Band Erregung Öffentlicher Erregung veröffentlicht ihr
> Debütalbum.
Bild: Gruß von der Datenautobahn: Die Band Erregung Öffentlicher Erregung
Manchmal kommen die besten Gelegenheiten gerade dann, wenn es einem
schlecht geht. So geschehen ist es Anja Kasten. An der [1][Kunsthochschule]
war kreativer Stillstand und auch um die Beziehung stand es mies. Ein
Kommilitone fragte sie, ob sie Lust habe, in seiner Band zu singen, etwas,
das sie zuvor noch nie gemacht hatte. Anja Kasten sagte spontan zu und
entlud ihren künstlerischen Output in die Songtexte der Band Erregung
Öffentlicher Erregung. Kastens Stimme klingt besonders, denn sie singt
nicht nur mit ihr – sie schreit, sie bellt, ihre Stimme überschlägt sich.
Knapp acht Jahre ist das her, jetzt endlich erscheint das offizielle
Debütalbum von Erregung Öffentlicher Erregung, kurz EÖE. Neben Anja Kasten
gehören Michael Schmid am Schlagzeug, Gitarrist Michael Hager, der Bassist
Laurens Bauer und Keyboarder Philipp Tögel zur Band. Geschmiedet wurde an
der Musik ihres Werks zwischen [2][Hamburg] und [3][Berlin.]
Tatsächlich entstehen die Songs von Erregung Öffentlicher Erregung irgendwo
im Dazwischen: Die Bandmitglieder schicken sich Songs und Ideen übers
Internet hin und her, Proben finden auch mal als Onlinekonferenz statt. Was
in der Pandemie für viele Alltag geworden ist, praktizieren EÖE schon seit
Langem. Die Datenautobahn ist quasi ihr Übungsraum. Das passt zu den Videos
und der Ästhetik der Band.
## Nullen und Einsen als Wegweiser
Sie versetzen einen dahin zurück, als es die digitale Welt noch zu erkunden
galt: Die Ästhetik von EÖE entspricht einer Science-Fiction-Reise aus
Videospielen und Comics, in der Nullen und Einsen die einzigen Wegweiser
sind. Einen Probenraum im analogen Leben haben EÖE trotzdem. Er befindet
sich in Hamburg, wo mittlerweile nur noch Gitarrist und Keyboarder leben.
Dort kommen sie dann zusammen, wenn Konzerte anstehen. Und das, obwohl sie
in Hamburg ihre ersten Songs aufgenommen haben – mit relativ einfachem
Equipment und selbst gefeilter Produktion. Die Musik musste raus, sobald
sie komponiert war.
Und diese unmittelbare Energie hört man ihren frühen Songs an: Die ersten
beiden Veröffentlichungen, die EP „Farbfernseher“ (2015) und das
[4][Mini-Album „Sonnenuntergang über den Ruinen von Klatsch“ (2017)], waren
kleine energetische Post-Punk-Bomben, mal melancholisch, mal laut, von
Gitarre und Rhythmus genauso getrieben wie von Anja Kastens Gesang.
Damit gewannen Erregung Öffentlicher Erregung nicht nur den Hamburger
Nachwuchsmusikpreis „Krach + Getöse“, sondern auch Scooter-Mikrofon-Reptil
[5][H.P. Baxxter] als Fürsprecher. Vom Preisgeld mietete das Quintett das
erste Mal ein richtiges Studio, bei den Sessions entstand die EP „TNG“
(2018), benannt nach der Nachfolgesendung der berühmten TV-Serie
„Raumschiff Enterprise“ aus den 1960ern.
## Erringung öffentlicher Fördergelder
Auch für das offizielle Debütalbum, schlicht „EÖE“ betitelt, gab es wied…
Fördermittel. Erregung Öffentlicher Erregung gehören damit zu einer Reihe
von Bands, deren Produktionen ohne Erringung öffentlicher Fördermittel
nicht möglich wären – oder zumindest ganz anders klängen. Denn wenn mit
Albenverkäufen nur noch geringe Erlöse erzielt werden, können Labels auch
wenig Mittel für Produktionen vorschießen. Aufregende Musik entsteht als
Lo-Fi im Schlafzimmer – oder eben mit Unterstützung staatlicher Gelder.
EÖEs Musik gäbe es auch ohne diese.
Aber dank ihnen ging es mit dem Berliner Produzentenduo Balayage nun in ein
Studio in Schleswig-Holstein, dessen Instrumentarium Eingang in die Musik
fand. Wer will, kann eine Flöte entdecken und eine Orgel veredelt das
melancholische, fast zärtliche Stück „Langeweile“. In „Blaue Zähne“ …
zuerst ein glockenheller Synthesizer durch den Song, übergibt dann aber an
ein Cembalo – kein digitaler Effekt, sondern eingespielt vom Berliner
Musiker und Autor [6][Christian „Reverend“ Dabeler], der als Gast auf dem
Album mitwirkt.
In [7][„Vermessen“] treiben sich Bass und Schlagzeug gegenseitig an, die
Gitarre kratzt zunächst bloß leicht im Ohr, übernimmt aber später die
Melodie. Und Anja Kasten philosophiert darüber, was eine Person eigentlich
ausmacht – ist es der Körper, das Selbst oder das, was man tut? „Mach mal
’ne Pause“, singt sie und zieht so schön ihre Silben in die Länge, wie es
nur sie kann. Mit ihrer gnatschigen, leicht angefressenen Attitüde erinnert
ihr Gesang genauso an britische Punkpioniere wie an Annette Humpe von Ideal
oder die Band Kleenex aus der Schweiz.
## Mehr als nur Gesang
„Disko“ läuft seinem Titel entsprechend auf einem geraden Beat, unterstüt…
vom trockenen Basslauf, verweist der Song mit seiner Synthesizer-Melodie
zunächst eher an Elektronik-Pioniere als auf zeitgenössische Clubsounds,
steigert sich aber zu einem verzweifelten Gitarrenmonster. Auch der Text
kreist um die immer gleiche Frage: „Ich find’ Dich nicht in der Disko.
Wieso?“ Wenn Anja Kasten singt, scheint das immer etwas mehr zu bedeuten.
Ob es ums Trinken geht, um den Kater danach oder darum, Colakracher auf
einer Parkbank zu teilen, der Stoff ihrer Texte ist dabei nur auf den
ersten Blick banal.
Ihre Sprache verzichtet auf Ausschmückungen. Sie nutzt Alltagsworte,
beschreibt damit aber mehr als nur den Alltag. So entmystifiziert sie
Märchenstoffe und lässt jegliche Romantik auf dem Boden der Tatsachen
ablaufen: „Lass Dein Haar herab, ich will herauf zu Dir / Du bist oben, ich
hier unten / Du hältst Dich für was Besseres / dabei bist Du nur
betrunken.“
Dazu wird der Flow der Musik immer wieder durch Zwischenspiele
unterbrochen, die die Songs seltsamerweise ineinandermorphen: Es sind
Skizzen, mit oder ohne Gesang, Fragmente, hängen geblieben irgendwo auf dem
Weg zum Album. Ein Gruß von der Datenautobahn zwischen Berlin und Hamburg,
so beschreibt es Gitarrist Michael Hager. Und ein Einblick in den nie
abgeschlossenen Arbeitsprozess der Band. Eine Band, die hier gleichsam ein
Best-of ihrer Ideen und Einflüsse ausbreitet, sich selbst vorzustellen
versucht.
Damit klingen EÖE überlegter und ausgefeilter als je zuvor – was zu Kosten
der rohen Unmittelbarkeit ihrer ersten EPs geht. Zudem bellt Anja Kasten
auch nicht mehr. Aber ihre Komposition ist so vielseitig und überraschend
wie nie zuvor und schafft es trotzdem, Ecken und Kanten mit aufs Album zu
bringen. Und natürlich sind da auch noch Kastens Texte. Ihre dringlichen
Fragen, beantwortet sie zwar nicht selbst, aber dafür werden diese sich die
Hörer:innen immer wieder stellen.
3 Sep 2020
## LINKS
[1] /Romandebuet-von-Mayo-Thompson/!5549257/
[2] /Hamburger-Musikerin-Rosaceae/!5693380/
[3] /Deadbeat-und-Paul-St-Hilaire/!5693864/
[4] https://www.youtube.com/watch?v=h459EDpC3X8
[5] /Ausstellung-zu-Kunst-und-Musik/!5574002/
[6] /Romandebuet-und-Album-der-Gruppe-Oil/!5666202/
[7] https://www.youtube.com/watch?v=e7G_Hmc-8_0
## AUTOREN
Diviam Hoffmann
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