| # taz.de -- Wissenschaftlerin über Klimabewegung: „Streiken kann Debatten an… | |
| > Die Klimabewegung kommt an einen Punkt, an dem sich alles entscheiden | |
| > könnte, glaubt die Soziologin und Ökonomin Ilona Otto. | |
| Bild: Und rums, es kippt: Sprengung des Schornsteins eines früheren Kohlekraft… | |
| taz: Frau Otto, [1][Fridays For Future rufen zum nächsten Klimastreik auf]. | |
| Sie halten das für den richtigen Weg, um echten Klimaschutz zu erreichen. | |
| Was macht Sie so optimistisch? | |
| Ilona Otto: Die Klimastreiks sind unglaublich wichtig. Besonders jetzt, | |
| nach dem Corona-Lockdown, müssen wir ein Zeichen in die Welt schicken, dass | |
| die Klimakrise immer noch ein wichtiges Thema ist. Ich bin sicher, dass die | |
| politischen Parteien es nicht ignorieren und überlegen werden, was sie tun | |
| können, um attraktiver für diese potenziellen Wähler zu werden. Für die | |
| Menschen, die streiken, ist es auch wichtig zu sehen, dass sie nicht allein | |
| sind. Natürlich: Einmal streiken wird unsere CO2 Emissionen nicht radikal | |
| verändern, aber es kann offen machen für Änderungen im Lebensstil. Es kann | |
| Debatten anregen in der Familie, unter Freunden oder bei der Arbeit. | |
| Die Klimawissenschaft diskutiert „Kipppunkte“, bei denen eine Entwicklung | |
| in der Natur, etwa das Abschmelzen der Arktis, in einen neuen Zustand | |
| „kippt“. Sie haben nun „Kippelemente“ in sozialen System untersucht, | |
| insbesondere die Frage, wann Klimaschutz sich in der Gesellschaft | |
| durchsetzt. Kippen wir mit der Coronakrise und der globalen Rezession | |
| gerade in ein grünes Zeitalter? | |
| Die Kippmechanismen in natürlichen und gesellschaftlichen Systemen | |
| funktionieren etwas unterschiedlich. Natürliche Bedingungen haben keine | |
| Intentionen, aber in sozialen Netzen gibt es handelnde Personen und ihre | |
| Absichten. Die Coronapandemie bewirkt einen massiven Rückgang der | |
| CO2-Emissionen, das stimmt. Aber es wäre zynisch, das Leiden und Sterben | |
| von Menschen als grünes Zeitalter zu bezeichnen. Auch Krieg verringert | |
| Emissionen, aber das will niemand. Corona bringt uns auch weiter weg von | |
| den UN-Nachhaltigkeitszielen zu Gesundheit, Sicherheit und Bildung. | |
| Was macht „soziale Kippelemente“ aus? | |
| Ein kleiner Wandel, eine zielgerichtete Intervention, kann weitreichende | |
| Folgen haben. Wir haben mit Blick auf den Klimaschutz untersucht, wie | |
| Eingriffe durch Klimapolitik, gezielte Informationskampagnen, der | |
| Durchbruch erneuerbarer Energie, der Umbau der Städte oder Änderungen bei | |
| Werten und Normen zum Abschied von Kohle, Gas und Öl führen können. Und ein | |
| gutes Beispiel ist das „Divestment“, also der Abzug von Kapital aus | |
| verschmutzenden Industrien. Mit einer relativ kleinen Zahl von Investoren | |
| kann man den Markt drehen. | |
| Wie geht das? Indem Sie den Herdentrieb nutzen? | |
| Das klingt heute vielleicht komisch, aber auch [2][sozialer Wandel ist | |
| ansteckend]. Das ändert Normen und kann sich schnell verbreiten. Die | |
| moralische Dimension der Klimafrage kann sich schnell verbreiten, wenn klar | |
| wird, dass man die Zukunft der eigenen Kinder aufs Spiel setzt. | |
| Die Umweltbewegung hat anfangs moralisch argumentiert, dann lange nicht | |
| mehr. FFF haben das wieder gemacht, etwa mit [3][„How dare you?“]. Aber | |
| wann wird daraus Politik? | |
| Der Kipppunkt in politischen Systemen ist, wenn die Debatte von der Moral | |
| in das Gesetz überwechselt. Der Wandel kommt, wenn eine Forderung zur | |
| rechtlichen Norm dann auch durchgesetzt wird. Im Feminismus war der | |
| Kipppunkt erreicht, als Frauen das Wahlrecht bekamen. | |
| Wir haben ja jetzt ein Klimaschutzgesetz. | |
| Der Kipppunkt ist noch nicht erreicht, denn die Gesetze müssen ja zum einen | |
| angemessen sein und zum anderen erst noch umgesetzt werden. Es ist auch | |
| normal, dass es lange dauern kann. Normativer Wandel dauert bis zu drei | |
| Generationen, bis er voll durchschlägt. | |
| So viel Zeit haben wir beim Klima aber nicht. | |
| Wir sind ja nicht Generation null. Die letzten 40 Jahre waren nicht | |
| verschwendet. Wir stehen vielleicht kurz vor diesem Kipppunkt, wenn die | |
| Forderungen zu ernsthaftem Klimaschutz von einer Minderheit auf die | |
| Mehrheit übergehen. | |
| Sie sagen, 15 bis 25 Prozent wären genug, um im Finanzsystem, aber auch bei | |
| ethischen Fragen, den Unterschied zu machen. Warum ist das so? | |
| Das hat viel mit der Struktur des Systems zu tun. Bei den Finanzmärkten | |
| braucht man weniger Player, weil das System sehr eng verbunden ist. In | |
| sozialen Normen passieren Dinge langsamer. Um das System zu ändern, braucht | |
| es mehr handelnde Personen. Aber anders als bei Wahlen brauchen sie keine | |
| absolute Mehrheit für einen Wandel. Politik reagiert auf Strömungen, wenn | |
| sie auf reale Probleme hinweisen und Veränderungsbedarf aufzeigen. Es geht | |
| um die großen Trends in der Gesellschaft. Als die Grünen in der Klimafrage | |
| mehr Stimmen bekamen, wurden die anderen Parteien grüner. | |
| Ist das nicht ein Problem im demokratischen Prozess? Wenn 20 Prozent die | |
| Politik des Landes bestimmen? | |
| Ja, das kann ein Problem sein. Der Erfolg der AfD in Deutschland zeigt | |
| genau das: Eine kleine Minderheit bestimmt in einem Punkt, etwa der | |
| Flüchtlingsfrage, welche Politik gemacht wird. Du kannst mehr Macht haben, | |
| als deine Prozentzahlen zeigen. Wichtig ist eine Minderheit, die sich | |
| engagiert. Wenn man aktiv ist und seine Meinung äußert, auf sozialen | |
| Medien, mit den Nachbarn redet, mit den Kollegen. Eine solche Minderheit | |
| kann, wenn sie auch noch die sozialen Medien strategisch nutzt, die soziale | |
| Dominanz erlangen und die Normen verändern – wenn die anderen | |
| gesellschaftlichen Gruppen nicht gegensteuern, was sie nämlich durchaus | |
| können. Das ist ein allgemeiner sozialer Mechanismus des Wandels. | |
| Wie nah sind wir an den Kipppunkten zu ernsthaftem Klimaschutz? 20 Prozent | |
| haben ja die Grünen derzeit in Umfragen. | |
| Das System ist kurz davor, Richtung Klimaschutz zu kippen. Wie nah wir dran | |
| sind, ist schwer zu sagen. Menschen entscheiden sich frei und sind | |
| unvorhersehbar. Wenn wir die einzelnen Elemente anschauen, sehen wir: Bei | |
| erneuerbaren Energien haben wir den Kipppunkt sogar schon überschritten. | |
| Erneuerbare sind weltweit oft günstiger als Fossile. Die können sich nur | |
| mit Subventionen halten. | |
| Wie sieht es bei den anderen Bereichen aus? | |
| Auch beim Finanzsystem sind wir dem Kipppunkt ziemlich nah. Es gibt immer | |
| mehr Investoren, die ihr Geld ökologisch bewusst anlegen, weil sie die | |
| finanziellen Folgen fürchten, wenn das fossile System zusammenbricht. Und | |
| die auch bewusst deinvestieren, also aus den Fossilen rausgehen. Auch bei | |
| den Normen sind wir nah am Kippen. Es gibt „Flight Shaming“, in vielen | |
| sozialen Gruppen es ist nicht mehr cool, für wenige Tage ganz weit weg zu | |
| fliegen. In Städten ist Radfahren für viele cooler und praktischer als das | |
| eigene Auto. | |
| Es fühlt sich aber nicht so an, als stünden wir kurz vor einem Durchbruch | |
| beim Klimaschutz. Warum kippt das System nicht? | |
| Ein Grund dafür: Die jungen Leute können noch nicht wählen und können noch | |
| nicht viel bestimmen. Wenn sich das ändert und sie zu arbeiten beginnen und | |
| dann Führungspositionen in Firmen und Organisationen erreichen, wird sich | |
| das schnell ändern. Ich hoffe nur, die vergessen dann ihren Idealismus | |
| nicht. | |
| Es heißt, der Fortschritt ist eine Schnecke. Sie sagen, er ist eher eine | |
| Lawine. Erst langsam, dann rasend schnell. | |
| Wenn [4][viele Menschen auf die Straße gehen], dann kann Fortschritt sehr | |
| schnell gehen. Einstellungen und dann Normen ändern sich, wenn Lehrer sie | |
| verbreiten, wenn jemand eine Solaranlage auf sein Dach baut und dem | |
| Nachbarn davon erzählt, oder wenn man die Kollegen kritisiert, die immer | |
| noch mit dem Auto zur Arbeit kommen. | |
| Wie wichtig sind positive Beispiele für sozialen Wandel? | |
| Sehr wichtig. Zum Beispiel motiviert es viele, Greta Thunberg zu sehen und | |
| zu hören. Man denkt, wenn dieses junge Mädchen sich kritisch zu äußern | |
| traut, dann traue ich mich auch. Wichtig sind auch die Motive, etwa Angst, | |
| Wut oder Enthusiasmus. Angst ist kein guter Ratgeber, weil er dazu führt, | |
| dass wir Risiken vermeiden und unbeweglich werden. Das zeigt sich auch | |
| alles bei FFF: Da ist keine Angst, aber [5][viel Wut und Begeisterung]. | |
| Einer der Gründe, warum sie erfolgreich sind. | |
| In Ihrer Studie stammen die meisten Antworten von Experten aus dem Globalen | |
| Norden mit hohem Lebensstandard. Wie aussagekräftig ist Ihre Untersuchung | |
| da für ein globales Problem? | |
| Es stimmt, die Basis sind vor allem Antworten aus dem Norden. Ich hätte mir | |
| gewünscht, dass es mehr Stimmen aus dem Süden gibt. Aber der Klimawandel | |
| ist eben auch zum großen Teil ein Problem des Nordens. Hier ist er | |
| entstanden, hier müssen die Lösungen entwickelt werden. | |
| Sehen Sie nach Ihren Studien optimistischer oder pessimistischer in die | |
| Zukunft als vorher? | |
| Ich bin pessimistisch, wenn ich sehe, in welchem Umfang und Tempo wir die | |
| Natur zerstören. Aber ich bin optimistisch, wenn ich daran denke, wie viel | |
| Macht und Wirksamkeit die Menschen entfalten können. Nach dieser Studie | |
| habe ich viele Mails und Rückmeldungen bekommen. Die Leute haben sich | |
| bedankt, weil es ihnen Mut gemacht hat: Die Aussicht, dass sie nicht | |
| hilflos sind, sondern wirkmächtig werden können und dass vielleicht viele | |
| der Kipppunkte kurz bevorstehen. | |
| 21 Sep 2020 | |
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