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# taz.de -- Westliches Wertesystem: Schäubles leise Sätze
> Der Bundestagspräsident attestiert dem Westen einen
> Glaubwürdigkeitsverlust. Man sollte genauer hinhören und darüber reden.
Bild: Wolfgang Schäuble nimmt an der 176. Sitzung des Bundestags teil
Der Westen befände sich mit seinem Wertesystem in der Krise, „nach innen
und nach außen“, erklärte Wolfgang Schäuble vor einigen Tagen im Rahmen
einer Buchvorstellung. Er habe einen Glaubwürdigkeitsverlust erlitten, weil
er dieses Wertesystem immer weniger als „Selbstverpflichtung“ verstehe.
Schäuble sagte diese Sätze leise, fast beiläufig.
Dabei ist schärfere Kritik an der politischen Klasse von einem ihrer
führenden Repräsentanten kaum je geäußert worden. Es ist der
Bundestagspräsident, der das sagte, Mitglied der größten Regierungspartei.
Der zweite Mann im Staat erklärt, die Eliten des Westens seien an ihren
Problemen selbst schuld – und niemand hört hin. Nicht einmal eine kurze
Meldung ist erschienen. Nun sorgen Buchvorstellungen selten für
Schlagzeilen. Aber im letzten Jahr war Schäuble bei einer Rede in der
Berliner Humboldt-Universität noch deutlicher geworden.
Es gebe genügend Anlässe aus den vergangenen drei Jahrzehnten, die
„freiheitliche Demokratie als überlegenes Modell zu hinterfragen, etwa mit
Blick auf den ökonomischen Aufstieg Chinas, die globale Finanzkrise oder
die gescheiterte Intervention im Irak“, sagte er damals.
„Wenn wir heute beklagen, dass in einigen mittel-und osteuropäischen
Ländern und auch in Russland die Werte des Westens an Attraktivität
verloren haben: Liegt das nicht vielleicht auch an der Rolle, die der
Westen in der Transformation gespielt hat? An einem zu selbstgefälligen
Glauben an die Alternativlosigkeit der eigenen Konzepte und Modelle? Hat
der Westen womöglich gerade bei dem versagt, was ihn doch eigentlich
auszeichnet und von autoritären Systemen unterscheidet: In seiner Fähigkeit
zur Selbstkritik und Selbstkorrektur?“
Machen Sie sich keine Sorgen, wenn Sie sich an die Grundsatzdebatte nicht
erinnern, die nach dieser Rede entbrannte. Es hat sie nicht gegeben. Nichts
und niemand scheint imstande zu sein, den dichten Nebel aus Ratlosigkeit zu
durchdringen, die sich als Selbstbewusstsein tarnt und derzeit die
politische Klasse beherrscht.
Die Forderung nach Diskussionen über Prinzipien ruft bestenfalls
Augenrollen hervor. Interessengeleitete oder wertgestützte Außenpolitik?
Mehr Augenrollen. Gibt es eine Möglichkeit, beides miteinander zu
verbinden? Das Publikum verlässt den Saal.
## Prinzipienlosigkeit zur Realpolitik verklärt
Nun hat sich gezeigt, dass man ziemlich lange damit durchkommen kann,
Prinzipienlosigkeit zur Realpolitik zu verklären, zumal in einer Zeit, in
der die Unterschiede zwischen den großen politischen Parteien immer mehr
verschwimmen.
Aber irgendwann rächt sich das dann doch. Dann verrecken [1][allzu viele
Geflüchtete]. Und dann hält die nichtwestliche Welt hehre Bekenntnisse zu
den Menschenrechten eben nicht mehr für glaubwürdiger als Behauptungen
autoritärer Regime, nur das Beste für alle Menschen im Blick zu haben.
Dann verstehen selbst Gutwillige nicht mehr, ob es bei der Diskussion
[2][über Nord Stream 2] nun um Wirtschaftspolitik oder um die Verurteilung
eines Mordanschlags geht und warum gute Beziehungen zu Saudi-Arabien und
Ägypten weiterhin möglich sein sollen, [3][zu Moskau aber nicht]. Dann
wenden sich immer mehr Länder hin zu China und weg von Europa. Peking
erhebt wenigstens nicht den Anspruch, Geschäftspartner erziehen zu wollen.
In der deutschen Außenpolitik ist derzeit keine Linie zu erkennen, nicht
einmal eine falsche. Die Ostpolitik wäre ohne Grundsatzdiskussion nicht
möglich und ganz sicher nicht erfolgreich gewesen. Eine solche Debatte
schärft ja auch den Blick auf innere Widersprüche. Welchen Kurs will
Deutschland denn nun eigentlich fahren? Wir sollten darüber reden. Endlich
einmal wieder.
20 Sep 2020
## LINKS
[1] /Europa-und-die-Moria-Krise/!5710054/
[2] /Zukunft-von-Nord-Stream-2/!5711048/
[3] /AKK-Maas-und-Spahn-zu-Fall-Nawalny/!5712616
## AUTOREN
Bettina Gaus
## TAGS
Kolumne Macht
Außenpolitik
Bundesregierung
Westen
Wolfgang Schäuble
Schwerpunkt Bundestagswahl 2025
Lesestück Recherche und Reportage
Schwerpunkt Iran
Alexei Nawalny
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