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# taz.de -- Die steile These: Trickreisen sind die Zukunft
> Unser Urlauben könnte bald nur noch virtuell stattfinden. Macht doch gar
> nichts! Überfüllte Altstädte sind eh überwertet.
Bild: Mann im Mallorca-Urlaub (vielleicht)
Man hört, es gebe Veranstaltungen in diesen verrückten Tagen, die
ausschließlich im Internet genossen werden können. MusikerInnen geben
Internetkonzerte, SchriftstellerInnen Onlinelesungen. Die
taz-Genossenschaft versammelt sich vor Monitoren. Schulklassen besuchen
virtuelle Ausstellungen.
Alles Notlösungen, gewiss. Die Frage ist, warum man nicht etwas daraus
machen sollte, dass sich so viele Leute an diese ganzen Digitaldingsereien
gewöhnt haben. Man muss ja nicht gleich glauben, dass die Coronapandemie
die Welt besser mache. Aber ein bisschen Musik ist da schon drin, gerade im
Mobilitätsbereich.
Man hört zum Beispiel von leitenden Angestellten, die derzeit nicht mehr
wöchentlich durchs Land jetten, um Meetings persönlich beizuwohnen, sondern
die nun Softwarelösungen präferieren. Und die nicht mal eine Hose tragen
müssen, während sie mit der oder dem CEO videokonferieren. Zu vernehmen
ist gar, dass dergleichen in Zukunft hier und da beibehalten werden könnte.
Überhaupt könnten weite Teile des Reisens virtuell stattfinden. Nicht nur
Dienstreisen, auch touristische Reisen. Im Februar, vor der Pandemie, warb
ein Touristikunternehmen für „thematisch aufbereitete
Virtual-Reality-Touren“. Angepriesen wurden Reisen nach Barcelona, Paris
oder München, wo man virtuell in die Stadtgeschichte eintauchen könne.
Warum, fragt man sich, soll man eine virtuelle Paris-Tour nicht auch von
Bielefeld aus unternehmen können?
Schon klar: Es ist etwas anderes, ob man Paris nur sieht oder nebenbei noch
riecht und fühlt und abends Pariser Sand aus seinen Schuhen leert. Das
3sat-„Alpenpanorama“, das Webcambilder aus den Bergen zeigt, ersetzt ja
auch keine Wanderung. Aber der Fußabdruck des Massentourismus hat jetzt
schon Bigfoot-Ausmaße. Und Pandemie hin oder her, kleiner wird er nicht
werden, wenn 1,3 Milliarden Chinesen sich nach und nach das Reiseverhalten
von 80 Millionen Deutschen angewöhnen.
## Die Tropical Islands sind ein Fake – und gut besucht
Im Jahr 1950 wurden weltweit 25 Millionen Touristenankünfte gezählt.
Derzeit kratzt der Tourismus an der 1,2-Milliarden-Marke. Die
Welttourismusorganisation schätzte vor der Pandemie, dass es bald 1,8
Milliarden Touristenankünfte pro Jahr geben dürfte. Wo sollen die Leute
hin? Soll die Schlange vor dem Petersdom dann zweimal um den Platz führen
statt nur einmal? Acht Stunden anstehen statt nur vier?
Die Frage ist, was zum Beispiel Kreuzfahrttouristen wirklich fehlen würde,
wenn sie nicht in Dubrovnik eine Stunde lang an Land gehen könnten, um sich
zu Tausenden durch die enge Altstadt zu schieben. Sondern wenn sie
Dubrovnik nur virtuell besuchen würden. Man kann noch weiter gehen: Was
wäre schlechter, wenn sie auf ein Schiff stiegen, das eine Kreuzfahrt nach
Dubrovnik perfekt simuliert, aber in Wirklichkeit nie ablegt?
Ansatzweise geht es schon in diese Richtung. Auf manchen Luxusschiffen sind
heute in fensterlosen Innenkabinen riesige Bildschirme installiert, auf
denen Meerblick vorgetäuscht wird. Wer darauf schaut, weiß zwar, was hier
vor sich geht, guckt aber trotzdem lieber dorthin als auf eine Tapete.
Man könnte es einfach lassen mit den echten Kreuzfahrten. Virtual Reality
reicht. Dass sie VR-Brillen tragen – hui, das haben wir ja noch nie
gemacht! –, würden Uschi und Hans nach dem dritten Schirmchencocktail schon
vergessen.
Lustige Idee, geht nur irgendwie nicht, finden Sie? Na ja, doch!
TouristInnen haben nichts gegen Zaubertricks. Nehmen wir nur die
[1][Tropical Islands] im brandenburgischen Krausnick, zwischen Golßen,
Halbe und Schlepzig gelegen: Fake von vorn bis hinten. Brandenburg liegt
gar nicht in den Tropen, und die Islands sind auch keine Inselgruppe.
## Zukunftsprobleme sind zum Lösen da
Die „Südsee“ ist ein gechlortes Riesenbecken, der „Tropische Regenwald“
wurde künstlich angelegt, und die Bratwürste sind auch nicht frisch
harpuniert. Es handelt sich in Wahrheit um eine beheizte Halle, in die
Menschen ein paar Flamingos gestellt haben. Alle wissen das, und die Leute
schicken trotzdem liebe Postkartengrüße „aus den Tropen“ nach Hause.
Oder der [2][Serengeti-Park] im niedersächsischen Hodenhagen: Familien
fahren dorthin, um Nashörnern dabei zuzusehen, wie sie Giraffen guten Tag
sagen. Es ist nicht die echte Serengeti, aber wen juckt’s? Wenn’s schön
ist, ist’s schön, und Tier ist Tier. Ein bisschen Selbstbetrug steckt in
jeder touristischen Reise. Warum es also nicht zu Ende denken?
Der Historiker Valentin Groebner hat darauf hingewiesen, dass TouristInnen
durchaus bereit seien, Illusionen zu akzeptieren, die sie durchschauen:
„Touristische Inszenierungen verdecken ihre Künstlichkeit nicht, im
Gegenteil“, schrieb er. Die Illusion existiert neben dem Wissen, das sie
zerstört.
Und es schadet ihr nicht, so wenig wie es einem Film schadet, wenn ihm eine
Bonus-DVD beiliegt, auf der ein „Making-of“ zu sehen ist. Kein Mensch auf
der Welt fühlt sich betrogen, wenn er feststellt, dass der Untergang der
Film-„Titanic“ für die Dreharbeiten inszeniert worden ist. Man freut sich
doch eher darüber, dass der Trick gelungen ist.
Die Zukunft des Reisens, kurzum, ist das Trickreisen. Und falls Sie nun
anmerken wollen, dass Tourismus vor allem ein lokaler Wirtschaftsfaktor sei
und in London überhaupt kein Interesse daran bestehe, von niemandem mehr
besucht zu werden, und dass Paris auch gar nicht wollte, dass man den
Eiffelturm auch von Cottbus aus virtuell besteigen könne, weil Paris dann
nichts damit verdiente: Dann mögen Sie recht haben.
Aber Zukunftsprobleme sind bitteschön da, um gelöst zu werden. Mit einer
Videokonferenz sollten wir anfangen. Vergessen Sie nur bitte nicht, dafür
keine Hose anzuziehen.
20 Sep 2020
## LINKS
[1] https://www.tropical-islands.de/
[2] https://www.serengeti-park.de/
## AUTOREN
Klaus Raab
## TAGS
Virtual Reality
Schwerpunkt Coronavirus
Schwerpunkt Klimawandel
Tourismus
Kolumne Hin und weg
Tourismus
Katalonien
Lesestück Recherche und Reportage
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