# taz.de -- Coronademo mit Judenstern: Im Opfergewand | |
> Impfgegner verkleiden sich als verfolgte Juden. Die Deutschen haben zu | |
> wenig Bewusstsein für die eigene Täterschaft im Nationalsozialismus. | |
Bild: Coronademonstration in Berlin: ein gelber Stern in dem „ungeimpft“ un… | |
Ist es mit Verschwörungsmythen zu erklären, wenn sich im Land der Schoah | |
Impfgegner [1][gelbe Judensterne] anheften? Solche Deutungen umschiffen | |
etwas Wesentliches – weil es dem offiziellen Selbstbild des geläuterten | |
Landes zu sehr widerspricht: Die Deutschen haben wenig Bewusstsein für die | |
eigene Täterschaft im Nationalsozialismus. | |
Ein furchtbarer Satz, er schreibt sich nicht leicht. Aber es ist an der | |
Zeit zu untersuchen, warum sich eine Minderheit so sicher fühlt, wenn sie | |
Symbole auf die Straße trägt, die mit Bezugnahme auf deutsche Verbrechen | |
eine Opferidentität halluzinieren und reklamieren. | |
Es war ein Erinnerungsort in Erfurt, der mich angeregt hat, neu über | |
Täterschaft nachzudenken. Wo die Wilhelm-Busch-Straße den Nonnenrain | |
kreuzt, wurden einst die Verbrennungsöfen für Auschwitz konstruiert. In | |
großen Lettern steht heute an der Fassade des einstigen | |
Verwaltungsgebäudes: „Stets gern für Sie beschäftigt …“ Mit dieser | |
Grußformel unterzeichnete die Firma Topf & Söhne ihre Briefe an die | |
Waffen-SS im Lager. | |
Ein Familienunternehmen; seine Inhaber waren weder fanatische Nazis noch | |
handelten sie unter Zwang. Es war nicht zuletzt die technische | |
Herausforderung, in Auschwitz immer größere Mengen von Leichen zu | |
beseitigen, die den Ehrgeiz der Firmeningenieure anstachelte. Als | |
Arbeitgeber waren die Gebrüder Topf anständig und liberal, beschäftigten | |
sogar Kommunisten und andere Verfolgte. Aber nichts hinderte sie, zum | |
Dienstleister der Endlösung zu werden. | |
Eine [2][Täterschaft im Gewand bürgerlicher Normalität] (übrigens nie | |
geahndet), unideologisch, ohne besondere individuelle Bösartigkeit. Diese | |
mausgraue Täterschaft, verbreiteter als die grelle, ist im Licht der Jahre | |
verblasst, als hätte es sie nie gegeben. Verschwunden aus der eigenen | |
Familie; kaum ein heutiger Deutscher vermag sich dort einen Täter, eine | |
Täterin vorzustellen. Umfragen zeigen auch, wie verbreitet die Ansicht ist, | |
die Masse der Deutschen sei frei von Schuld gewesen, nur eine kleine Riege | |
von „Verbrechern“ habe den Judenmord auf dem Gewissen. | |
Fast wortgleich hatte es Konrad Adenauer 1951 in einer Bundestagsrede | |
formuliert: Die „überwältigende Mehrheit der Deutschen“ habe die Verbrech… | |
gegen Juden verabscheut und viele hätten keine Gefahr gescheut, ihren | |
jüdischen Mitbürgern zu helfen. Heute glaubt ein Drittel der Deutschen, in | |
der eigenen Familie hätte es solche Helfer gegeben (Historiker sehen deren | |
Anteil bei 0,3 Prozent), und jeder Zweite findet unter seinen Vorfahren | |
Opfer. | |
Wenn sich Demonstranten Judensterne und gestreifte Häftlingskleidung | |
anlegen und Anne Frank für sich vereinnahmen, inszenieren sie Schuldabwehr | |
und Täter-Opfer-Umkehr auf großer Bühne. Das Spektakel spiegelt im | |
Extremen, was als Haltung gegenüber der eigenen Geschichte auf stillere | |
Weise weit verbreitet ist. Die sogenannte rechtsoffene Minderheit nur als | |
Negation der löblichen Gedächtniskultur einer Mehrheit zu sehen ist deshalb | |
zu einfach. | |
Am Rande einer Kundgebung erklärte mir ein Beteiligter: Sein Großvater sei | |
im KZ umgekommen; gerade deshalb kämpfe er nun gegen die neue Diktatur. Ich | |
war zunächst sprachlos, aber es war der Opferstatus des Großvaters, der | |
diesem Narrativ eine innere Logik verlieh. Das ist furchtbar wirr, aber ist | |
es wirklich so viel wirrer als die Normalität eines weitgehend täterfreien | |
Erinnerns im Land der Schoah? | |
## Wo beginnt Schuld? | |
Die viel strapazierte Formulierung, bald gebe es keine [3][Zeitzeugen] | |
mehr, verengt den Begriff Zeugenschaft gleichfalls auf Opfer, als verliehen | |
nur sie dem Judenmord Authentizität. Wie aufregend wäre es, wenn jemand vor | |
einer Schulklasse erzählte: Warum meine Familie die jüdischen Nachbarn | |
denunzierte. Oder: Warum wir sie im Stich ließen. Oder wenigstens: Warum | |
meine Vorfahren glaubten, nicht helfen zu können. Selbst Dilemmata sind | |
lehrreich, auch für den wachsenden Teil Deutscher, die als Migranten mit | |
der NS-Geschichte nicht biologisch verwandt sind. Wo beginnt Schuld? Was | |
definiert Täterschaft? Nur wer die Würde des Menschen auch um den Preis der | |
eigenen Sicherheit achte, könne sagen: Ich habe mich nicht schuldig | |
gemacht. So klar und hart formulierte es kürzlich die Hamburger Richterin | |
Anne Meier-Göring im Prozess gegen einen früheren Wachmann des [4][KZ | |
Stutthof]. | |
Was koloniale Vergehen betrifft, wird Verantwortung gleichfalls gern ins | |
Diffuse verlagert. Deshalb ist ein Denkmalsturz so provozierend: Er | |
markiert persönliche Täterschaft. Das wird, wie Großbritannien zeigt, nicht | |
nur in Deutschland abgewehrt. Aber spezifisch deutsch ist dies: Die | |
Verleugnung kolonialer Täterschaft begann mit der Selbstprojektion als | |
Opfer. Das war 1918/19, nach dem Verlust der Kolonialgebiete: die Deutschen | |
als verratene Nation. In ihrem Selbstmitleid war kein Platz für etwa eine | |
Million Tote, die das Kaiserreich auf afrikanischem Boden zu verantworten | |
hatte. Die Weigerung, diese Opfer zu sehen und ihnen das Menschsein | |
zuzugestehen, ebnete den Weg zu vielem, was folgte, bis hin zu Topf & | |
Söhne. | |
Noch einmal Erfurt: Eine Uferstraße an der Gera ist nach dem preußischen | |
Seefahrer Joachim Nettelbeck benannt; beteiligt am Sklavenhandel, später | |
Galionsfigur der Kolonialbewegung, posthum ein nationalsozialistischer | |
Volksheld. Eine Kampagne für Umbenennung will auf das Straßenschild den | |
Namen Gert Schramm setzen: Geboren am Nettelbeckufer, wurde er mit 15 | |
Jahren als schwarzer Deutscher ins nahegelegene KZ Buchenwald verschleppt. | |
In seiner Autobiografie notierte Schramm später, auf welche Haltung er bei | |
seinen Mitmenschen stieß, als er 1945 als ausgezehrter Überlebender wieder | |
in ihre Welt trat: Jeder hatte etwas zu jammern, „und keiner wollte ein | |
Nazi gewesen sein“. | |
Bei gutem Wetter lässt sich der Weg von Topf & Söhne zum Gert-Schramm-Ufer | |
zu Fuß zurücklegen. | |
16 Sep 2020 | |
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## AUTOREN | |
Charlotte Wiedemann | |
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