| # taz.de -- Neue Regierung in Montenegro: Unser Autokrat | |
| > Milo Đukanović setzte auf Versöhnung und schubste Montenegro in die Nato. | |
| > Es bleibt offen, ob die von serbischen Parteien dominierte Regierung das | |
| > beibehält. | |
| Bild: Montengros Präsident Milo Dukanovic | |
| Der Westbalkan ist ein Sammelsurium von kleinen Staaten mit mangelhaften | |
| Demokratien, tief gespaltenen Gesellschaften, schwachen Wirtschaften und | |
| unbeglichenen historischen Rechnungen. Alle wollen Mitglieder der | |
| Europäischen Union werden, tun jedoch recht wenig, um sich den europäischen | |
| Normen anzupassen. Solange Frieden in der Region herrscht, ist das aus | |
| Sicht der erweiterungsmüden EU ein akzeptabler Zustand. Da nimmt man gern | |
| hier und dort auch einen Autokraten hin, wenn er für regionale Stabilität | |
| sorgt und vom prowestlichen Kurs nicht allzu sehr abweicht. | |
| Für die dort lebenden Menschen jedoch ist das Dasein in autokratischen | |
| Gesellschaften samt der ewigen „europäischen“ Perspektive frustrierend. | |
| Irgendwann treibt die Frustration alle Gegner eines autoritären Regimes | |
| zusammen, die den Autokraten friedlich oder mit Gewalt loswerden. | |
| Und genau das ist bei den [1][Parlamentswahlen in Montenegro am 30. August] | |
| passiert. Bürgerliche und prowestliche Kräfte haben sich mit | |
| serbisch-orthodoxen und prorussischen Parteien zusammengetan, nur um die | |
| Demokratische Partei der Sozialisten (DPS) von Staatspräsident Milo | |
| Đukanović nach über dreißig Jahren zu entmachten. Obwohl sie im Parlament | |
| [2][nur einen Abgeordneten weniger als die vereinigte Opposition] hatte, | |
| gab die DPS ihre Niederlage zu. | |
| Während sich die Mehrheit der Montenegriner nach dem „historischen“ Sieg | |
| und wegen der demokratischen Perspektive freut, ist man in der Region | |
| besorgt. Auch aus Brüssel und Washington schaut man bekümmert auf den | |
| kleinen Adriastaat. Denn Milo Đukanović ist zwar ein Autokrat, aber | |
| erwiesenermaßen „unser“ Autokrat. | |
| ## Kosovos Unabhängigkeit anerkannt | |
| In den 29 Jahren, in denen Đukanović mal als Regierungschef, mal als | |
| Staatspräsident in Montenegro herrschte, brach er rechtzeitig mit der | |
| großserbischen Expansionspolitik, entschuldigte sich bei den Kroaten wegen | |
| der Teilnahme montenegrinischer Reservisten bei den Angriffen auf | |
| Dubrovnik, brach trotz heftiger Proteste der montenegrinischen Serben mit | |
| der Staatengemeinschaft mit Serbien und führte Montenegro in die | |
| Unabhängigkeit; Đukanović eröffnete Beitrittsverhandlungen mit der EU, | |
| löste sich von der Umarmung des brüderlichen, slawisch-orthodoxen Russland | |
| und schubste das Land ohne Referendum in die Nato, erkannte die | |
| Unabhängigkeit des Kosovo an und setzte sich so der Wut Belgrads und der in | |
| Montenegro lebenden Serben aus, die knapp unter 30 Prozent der Bevölkerung | |
| stellen. Wegen all dieser „Leistungen“ nahm man in Brüssel die Korruption, | |
| die jahrzehntelange Alleinherrschaft des montenegrinischen Capo di tutti i | |
| capi in Kauf. | |
| Die siegreiche Koalition beeilte sich zu verkünden, nicht an | |
| außenpolitischen Verträgen und Verpflichtungen Montenegros rütteln zu | |
| wollen. Man wollte sofort die „Partner“ in Brüssel und Washington | |
| beruhigen, vor allem was die Mitgliedschaft in der Nato und das Kosovo | |
| angeht, dem größten ungelösten Brocken der Region. | |
| Doch Zweifel an der Verbundenheit der zukünftigen Regierung an dem Kurs, | |
| den Đukanović in der regionalen und Außenpolitik eingeschlagen hatte, | |
| bleiben. In Belgrad feierte man den Sieg der proserbischen | |
| montenegrinischen Opposition fast lauter als in Podgorica. Ein anderer | |
| Autokrat, Serbiens Staatspräsident Aleksandar Vučić, stellte den Sieg | |
| serbischer Parteien in Montenegro als seinen eigenen dar. Zu erwarten ist | |
| ein größerer Einfluss Belgrads auf Montenegro, wie zum Beispiel auf Bosnien | |
| und Herzegowina über die bosnischen Serben. | |
| ## Die Rolle des Metropoliten | |
| Der erzkonservative serbisch-orthodoxe Metropolit von Montenegro, | |
| Amfilohije, der sich aktiv in der Wahlkampagne für serbische Parteien | |
| starkmachte, wird von Wählern des serbischen Seniorpartners in der | |
| zukünftigen Regierung, der Allianz für die Zukunft Montenegros, | |
| vergöttlicht. Der Auslöser für monatelange Massenproteste in Montenegro, | |
| die Amfilohije koordinierte, war der Versuch von Đukanović gewesen, | |
| Eigentum der Serbisch-orthodoxen Kirche in Montenegro zu verstaatlichen. | |
| Die zukünftige Regierung will als Erstes ein entsprechendes, schon | |
| verabschiedetes Gesetz wieder nichtig machen. | |
| Amfilohije ist, wie die gesamte serbisch-orthodoxe Kirche, entschieden | |
| gegen die Anerkennung der Unabhängigkeit des Kosovo oder etwa die | |
| Gleichberechtigung von Homosexuellen. Der eigensinnige 82-jährige | |
| Metropolit ermunterte persönlich montenegrinische Reservisten im Kriegszug | |
| auf Dubrovnik Ende 1991. Nun ist die Herde des einst kriegslüsternen Hirten | |
| an die Macht gekommen. | |
| Obwohl sich die [3][ideologisch grundverschiedenen Koalitionspartner] auf | |
| eine „Expertenregierung“ geeinigt haben, die nach zwei Jahren die „ersten | |
| fairen und demokratischen Wahlen“ ausschreiben möchte, werden serbische | |
| Parteien die Erwartungen ihrer serbisch-orthodoxen Wähler nicht ganz | |
| ignorieren können. Während die Đukanović ergebene Regierung relativ | |
| schlechte Beziehungen nur mit Serbien hatte, hat das Mutterland der | |
| montenegrinischen Serben wegen unbeglichener Kriegsrechnungen | |
| problematische bilaterale Beziehungen mit fast allen postjugoslawischen | |
| Staaten. | |
| In Montenegro und der Region vermischen sich so Freude wegen der | |
| demokratischen Wende in Montenegro und Sorge wegen des Misstrauens zu den | |
| Kräften in Aufmarsch. | |
| Außerdem ist Đukanović noch längst nicht entmachtet. Sein | |
| Präsidentschaftsmandat dauert noch zwei Jahre, das Land ist gespalten, und | |
| es ist schwierig, ein jahrzehntelang aufgebautes autokratisches System | |
| abzubauen. | |
| Sollte die zukünftige, der Demokratie verpflichtete Regierung einen | |
| einzigen Schritt in die falsche, von serbischer Auffassung der Region und | |
| der Welt geprägte Richtung tun, wird sich der Westen wieder hinter | |
| Đukanović stellen. Was heißt schon Autokrat, wenn er unser Autokrat ist. | |
| Und wenn sich eventuelle Krawalle in Grenzen halten. | |
| 9 Sep 2020 | |
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| ## AUTOREN | |
| Andrej Ivanji | |
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