# taz.de -- Musiker über Klangästhetik: Im Zweifelsfall stolpern | |
> Neue Alben, simple Loops, Faszination für die Maschine. Die Musiker | |
> Gunther Wüsthoff und Frank Bretschneider teilen die Leidenschaft für | |
> elektronische Musik. | |
Bild: „Der Partycharakter von Techno hat mich nie interessiert“: Frank Bret… | |
Ein west-östliches Gipfeltreffen: Gunther Wüsthoff, ab Ende der 1960er | |
Saxofonist und Early-Keyboard-Adaptor der Hamburger Krautrockband Faust | |
sowie Toningenieur, trifft auf Frank Bretschneider, in den 1980ern Teil des | |
DDR-Punk-Undergrounds und nach der Wende Mitbegründer des Chemnitzer | |
Elektroniklabels Rastermusic. Kürzlich sind von beiden Musikern spannende | |
Soloalben erschienen, auf denen der Westberliner Synthesizerpionier Conrad | |
Schnitzler eine Rolle spielt. | |
taz am wochenende: Seien wir mal drastisch, Herr Wüsthoff, Sie | |
veröffentlichen ihr Solodebüt erst im tiefen Rentenalter. Gibt es so was | |
wie Rente für Musiker*innen überhaupt? | |
Gunther Wüsthoff: Man hört nie auf, Musik zu machen! Und: Ich erreiche ja | |
gerade erst den Höhepunkt meines Schaffens. (lacht) | |
Das klingt erst einmal amüsant, eingedenk der Tatsache, dass Sie mehr als | |
50 Jahre im Geschäft sind. Die Musik auf dem Album deckt einen Zeitraum von | |
fast 30 Jahren ab. Wie viel Arbeit steckt in der Aufarbeitung? | |
Wüsthoff: Ich bin kein fleißiger Mensch, sondern einer, der sich das Leben | |
möglichst einfach gestaltet. Trotzdem habe ich mit 75 angefangen, durch die | |
alten Schubladen zu gehen, zu sortieren, wiederzuentdecken. Gunther Buskies | |
vom Label Bureau B trat mit mir in Kontakt. Und seine Signale, dass meine | |
Musik Qualität besitze, haben mich ermutigt. Mir hätte der Antrieb gefehlt, | |
Klinken putzen zu gehen. | |
Sie haben einst als Marinefunker gearbeitet. Das ist ein interessanter | |
Brückenschlag zum Berliner Komponisten Conrad Schnitzler, der drei Jahre | |
auf einem Schiff angeheuert hatte und unter Deck, seiner Aussage nach, die | |
Welt der Töne erforscht hat. Gibt es einen besonderen Zusammenhang zwischen | |
Nautik und Klang? | |
Wüsthoff: In der Tat, einmal ist da ein mentaler Aspekt: Das Nervensystem | |
des Funkers wird umdressiert. Die Zeitskalen sind andere als im Alltag. Man | |
muss in weniger als einer Zwanzigstelsekunde reagieren können. Das war eine | |
Qualität, die mir, als wir mit Faust zu fünft auf die Bühne gingen und | |
ansatzlos zu improvisieren begannen, enorm weiterhalf. Der andere Aspekt | |
ist wirklich das Geräusch als solches. Die erste große Maschine, die ich | |
bewusst erlebt habe – als Dreijähriger –, war der Klang eines britischen | |
Amphibienfahrzeugs. Sein Blubbern war ausschließlich über das Brustbein | |
wahrnehmbar. Das faszinierte mich nachhaltig. | |
Frank Bretschneider, Sie haben für die „Con-Struct“-Reihe von Bureau B auch | |
mit den Aufnahmen des Berliner Musiktüftlers Conrad Schnitzler arbeiten | |
dürfen. Nehmen wir mal an, dass diese den Geräuschen des angesprochenen | |
Schiffswummerns nahekommen, stellt sich die Frage, wie sehr Sie sich | |
einarbeiten mussten in diese Klangwelt. | |
Frank Bretschneider: Ich kannte die Musik von [1][Conrad Schnitzler] | |
bereits, und mir war klar, dass diese sich von meiner eigenen Klangästhetik | |
unterscheidet. Die Sounds, die mir Wolfgang Seidel (Drummer der Ton Steine | |
Scherben und Freund von Schnitzler; Anm. d. Red.) zur Verfügung gestellt | |
hat, waren rau, bisweilen komplex. Ich habe dann beschlossen, beide Welten | |
miteinander zu verbinden, indem ich die Schnitzler-Sounds in mein | |
Modularsystem einspeise und wie meine eigenen Klänge behandle. | |
Während Faust und Schnitzler in der damaligen BRD Ikonen des Krautrocks | |
waren, lebten Sie als DDR-Bürger in Karl-Marx-Stadt. Wussten Sie damals, | |
was im Westen an Musik entstand? | |
Bretschneider: Wir kannten das in [2][Chemnitz], aber nicht im vollen | |
Umfang. Ich habe pro Tag mindestens zwei Stunden am Radio verbracht, um | |
„mitzuschneiden“, wie man das nannte: beim Bayerischen Rundfunk und beim | |
Rias. Es gab auch einen Plattenschwarzmarkt, wo so was zirkulierte. | |
Krautrock war ziemlich in. Von Schnitzler wusste ich, dass er bei Tangerine | |
Dream und vorher bei Cluster mitwirkte. Aber die ganze Vielfalt hat sich | |
mir erst nach der Wende erschlossen. Für meinen Geschmack waren viele | |
seiner Produktionen sehr ungeschliffen, aber die Faszination für die | |
Maschine selbst konnte ich raushören. | |
Elektronische Musik bekam ja durch Techno enormen Auftrieb. Waren Sie | |
dieser Entwicklung wohlgesinnt? | |
Wüsthoff: Ravekultur, die ja unmittelbar mit Techno verbunden war, hat mich | |
kaum interessiert. Ich habe nie in einer Disco zu Techno getanzt. | |
Elektronische Musik hat für mich sehr viele Möglichkeiten geboten, die im | |
Techno auf das Muster der Tanzbarkeit runtergebrochen wurden. | |
Bretschneider: Mir geht es ähnlich. Der Partycharakter hat mich nie | |
interessiert. Aber die Idee der einfachen Struktur, die Ökonomie, mit der | |
man sehr interessante Stücke bauen kann, hat mich fasziniert. Ich habe mich | |
jahrelang abgearbeitet; mit einfachen Loops und simplen Mustern kann man | |
aufregende Musik produzieren. Mit Techno gerieten auch andere Genres der | |
elektronischen Musik wieder in den Fokus, bei denen ich Nachholbedarf | |
hatte, etwa Minimal Music. | |
Auf Ihrem Album „[to|digi]tal“ hat mich das Stück „Just 17“ sehr | |
beeindruckt. Es erinnert in seinen wilden Läufen an das Werk des | |
[3][US-Komponisten Conlon Nancarrow]. Nancarrows Nachfahren klicken heute | |
Patterns in Pianosimulationen zusammen und lassen eher Muster denn | |
Kompositionen laufen. Wie funktioniert Ihr Stück? | |
Wüsthoff: Dem liegt tatsächlich keine technische Überlegung zugrunde, | |
sondern eine musikalische. „Just 17“ ist ein selten benutzter | |
Siebzehn-Sechzehntel-Takt. Wer dazu tanzen will, stolpert im Zweifelsfall, | |
weil es da einen Zusatzschlag gibt, der alles aus dem Gleichgewicht bringt. | |
Auf „Con-Struct“ bricht meines Erachtens auch ein Stück aus. Das ist | |
„Emitterfolger“. Während die vorherigen Stücke ihre Struktur auf den erst… | |
Höreindruck hin verbergen, drückt „Emitterfolger“ aufs Tanzbein. | |
Bretschneider: Das Stück habe ich aus einer Live-Improvisation an | |
Analogsynthesizern entwickelt, so wie das ganze Album. Das Material hat es | |
vorgegeben, es wäre so nie am [4][Computer] entstanden: wie sich aus dem | |
komplexen Chaos am Anfang plötzlich die stark strukturierte Sequenz | |
herausschält. | |
Das ist spannend, weil es mit einer Entwicklung der letzten Jahre | |
korreliert: Synthesizer sind so preiswert wie nie, viele ältere Instrumente | |
sind neu aufgelegt worden. Junge Künstler*innen haben sich Drum-Machines | |
und Keyboards angenommen. Wie halten Sie beide es damit? | |
Wüsthoff: Die Neuauflagen interessieren mich wenig, da ich immer noch auf | |
die Weiterentwicklung des Schnittstellenstandards Midi warte. Bis dahin | |
arbeite ich mit der Live-Coding-Software Sonic Pi weiter. | |
Herr Bretschneider, warten Sie auch auf Midi 2.0? | |
Bretschneider: Bei mir geht es in die andere Richtung – vielleicht der | |
Tatsache geschuldet, dass ich in meiner Jugend in der DDR von Synthesizern | |
nur träumen konnte. Mein Modularsynthesizer ermöglicht es, unmittelbarer | |
und intuitiver zu musizieren, als es mir mit dem Computer möglich wäre. | |
Conrad Schnitzler hat das Prinzip der „hierarchiefreien Musik“ propagiert, | |
in der das Künstler:innengenie in den Hintergrund tritt. Wie stehen Sie als | |
Musiker dazu? | |
Wüsthoff: Ich finde es total okay, wenn die Maschine einfach von selbst | |
arbeitet. Ich kann ihr nicht böse sein, wenn sie sich selbstständig macht. | |
Bretschneider: Sehe ich ähnlich. Sie hat eine besondere Ausdrucksweise – in | |
der man als Mensch hinter der Musik verschwinden kann. Gefällt mir gut. | |
3 Sep 2020 | |
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## AUTOREN | |
Lars Fleischmann | |
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