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# taz.de -- Mobbing an Berliner Schulen: Ermittlerin im Dunkelfeld
> Doreen Beer soll eine berlinweite Anti-Mobbing-Strategie für die Schulen
> entwerfen. Die fehlt nämlich – wie auch eine zentrale Erfassung der
> Vorfälle.
Bild: Ein Koffer voll Ideen gegen Mobbing bekommen Schulen von der Schulpsychol…
Doreen Beer ist keine, die sich gern in den Vordergrund drängt mit ihrer
Arbeit – das merkt man ihr am Dienstagvormittag im Presseraum der
Bildungsverwaltung an, bei ihrem ersten öffentlichen Auftritt, seit die
Anti-Mobbing-Beauftragte für die Berliner Schulen die Stelle im April
angetreten hat. „Ich bin Teil eines Netzwerks. Ich kümmere mich um
Einzelfälle, die zu mir kommen, und versuche aber dann von den konkreten
Fällen ausgehend zu schauen, wo wir strukturelle Defizite im Schulsystem
haben“, sagt sie.
Von der Einzelfallhilfe ins große Ganze also – und da man dafür auch das
große Rad drehen und die eigene Arbeit bekannt machen muss, musste die
studierte Psychologin und ausgebildete Familientherapeutin dann doch mal
das Büro gegen den Presseraum tauschen.
Ein paar konkrete Schwachstellen im System Schule hat die 42-Jährige, die
in den letzten vier Jahren bei einem freien Träger der Jugendhilfe in
Marzahn-Hellersdorf gearbeitet hat, bereits ausgemacht: „Mein Ziel ist es,
eine Anti-Mobbing-Strategie für alle Berliner Schulen zu entwickeln.“
Außerdem will Beer die bestehenden [1][Krisenteams in den Schulen]
„stärken“.
Bisher sind die Schulen per Schulgesetz angehalten, sich sowohl eine
Strategie gegen Mobbing als auch Krisenteams, die mit Schulpsychologie,
SozialarbeiterInnen und Lehrkräften besetzt sind, selbst zu verordnen.
Beides hatte Bildungssenatorin Sandra Scheeres (SPD) vor zwei Jahren für
alle Schulen zur Pflicht gemacht, nachdem es unter anderem an der
[2][Schöneberger Spreewald-Grundschule wiederholt zu Gewaltvorfällen]
gekommen war und die Schule sich schließlich auf eigene Faust einen
Security-Dienst engagiert hatte.
Unter Druck geriet die Senatorin dann im Januar 2019, als es an einer
[3][Reinickendorfer Grundschule den Suizidfall einer Elfjährigen] gab. Auch
wenn die Schulleiterin nach ersten Spekulationen in den Medien klarstellte,
die Schülerin sei kein Mobbingopfer gewesen, war Scheeres unter Zugzwang.
## Krisenteams an allen Schulen
Auch, weil bei einer anschließenden Anhörung von Lehrkräften und
SchülervertreterInnen im Bildungsausschuss des Abgeordnetenhauses deutlich
wurde: Viele LehrerInnen erkennen Mobbingvorfälle entweder nicht und wenn
doch wissen sie nicht unbedingt mit ihnen umzugehen – trotz der an vielen
Schulen bereits schon länger etablierten Krisenteams. Die hätten übrigens
inzwischen wirklich „alle Schulen“, wie ein Sprecher von Scheeres am
Dienstag versichert.
Damals, nach dem Suizidfall an der Reinickendorfer Grundschule, kündigte
Scheeres auch die Stelle der Anti-Mobbing-Beauftragten an. Beer will jetzt
genau an den ausgemachten Schwachstellen ansetzen: „Ich versuche gerade zu
gucken, wie die Krisenteams arbeiten, wo Möglichkeiten noch nicht nicht
genutzt worden sind und wo es strukturelle Defizite gibt“, sagt sie bei
ihrer Vorstellung.
Ein „Defizit“, das sie sieht: Viele Mobbingopfer wüssten nicht, an wen sie
sich wenden sollen. „Da landen dann die Eltern bei der Schulaufsicht oder
rufen direkt bei mir an“, sagt Beer. Und natürlich sei es gut, wenn sie ein
Fall direkt erreiche – aber das zeige auch, dass niedrigschwelligere
Strukturen in der Schule nicht funktionierten.
Beer sagt, sie denke da etwa an VertrauenslehrerInnen oder
SchulsozialarbeiterInnen. Auch im Klassenrat könnten die Schulen ganz
grundsätzlich über gewaltfreie Kommunikation reden. Aber dafür, sagt Beer,
„muss es an den Schulen auch eine Kultur des Zuhörens geben, es muss Raum
dafür da sein.“
Die letzten Monate, sagt Beer, seien wegen des Corona-Lockdowns ohnehin
wohl eine Sondersituation gewesen. Auch deshalb habe sie sich erst jetzt
öffentlich vorstellen wollen – „bisher sind die Fälle, die zu mir kamen,
wohl kaum repräsentativ gewesen“, sagt sie. Insgesamt 40 Beschwerden habe
sie seit dem 1. April gezählt, vor allem Eltern von GrundschülerInnen
hätten sich an sie gewandt. „Da hatten Eltern zum Beispiel das Gefühl, dass
eine Lehrkraft ihrem Kinder Unterrichtsmaterialien vorenthalte.“
Ob das Mobbing sei? Streng genommen bedeute Mobbing „gezielte,
wiederkehrende Gewalt unter Schülern oder von Lehrkräften gegen Schüler“,
sagt Beer. Aber „das subjektive Empfinden“ halte sich eben oft nicht an
wissenschaftliche Definitionen.
## Es fehlen Dunkelfeldstudien
Wie viele Mobbingfälle überhaupt nie gemeldet werden, ob nun in
Zusammenhang mit Corona oder nicht, lässt sich nachwievor auch wegen
fehlender sogenannter Dunkelfeldstudien nur schwer einschätzen – man darf
aber davon ausgehen, dass es nicht gerade wenige sind. Zum einen, sagt auch
Beer, würden Fälle nicht gemeldet, weil die Hemmschwelle gegenüber
MitschülerInnen oder gar LehrerInnen hoch sei.
Zum anderen sei Mobbing „ein lange oft verdeckt laufender Prozess“, der
erst rückblickend erkannt werde – und der sie „quasi als Beifang“ erreic…
wenn die Schule einen Gewaltvorfall an die Bildungsverwaltung melde. Auch
die Abgrenzung zu einem Fall von Diskriminierung sei mitunter fließend.
Im Gegensatz zu Gewaltvorfällen oder [4][Fällen von Diskriminierung] werden
Mobbingvorfälle an Schulen nicht zentral erfasst. Eigentlich hatte bereits
der rot-schwarze Vorgängersenat 2016 eine Meldepflicht für Mobbingvorfälle
beschlossen, doch das geriet in der laufenden Legislatur wieder in
Vergessenheit. Nach dem Suizidfall 2019 sagte Scheeres, die Meldepflicht
befinde sich „in der Evaluierung“.
Beer will nun zunächst mal die Hemmschwelle für Beschwerden insbesondere
für SchülerInnen niedriger machen. Dafür soll jetzt der
Landesschülerauschuss mit ins Boot geholt werden: Zwei SchülerInnen sollen
3 bis 5 Stunden pro Woche in die Anti-Mobbing-Arbeit eingebunden werden,
sagt Scheeres' Sprecher. Kommende Woche will man sich möglichst das erste
Mal zusammensetzen.
Und die große Anti-Mobbing-Strategie für die Berliner Schulen? „Die kommt
auch“, sagt Beer. Ihre Stelle sei nicht befristet.
1 Sep 2020
## LINKS
[1] /Gewalt-an-Berliner-Schulen/!5486214
[2] /Zu-Besuch-in-einer-Brennpunktschule/!5581528
[3] /Todesfall-einer-Elfjaehrigen-in-Berlin/!5577249
[4] /Diskriminierung-an-Berliner-Schulen/!5548895
## AUTOREN
Anna Klöpper
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Bildungspolitik
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