# taz.de -- Institution Schule: „Ein Widerspruch in sich“ | |
> Immer wieder sind Schüler:innen von Mobbing betroffen. Oft fehle Zeit | |
> für die Betroffenen, sagt die Autorin und Vertrauenslehrerin Ursula | |
> Pickener. | |
Bild: Immer wieder mit Problemen konfrontiert: Schüler:innen in der Schule | |
taz: Frau Pickener, die Unesco legte beim diesjährigen Internationalen | |
Anti-Mobbing-Tag den Fokus auf Cybermobbing. Wie finden Sie das? | |
Ursula Pickener: Nicht so sinnvoll. Denn Cybermobbing verläuft im Prinzip | |
nach den gleichen Mustern wie Mobbing allgemein. Und die psychischen Folgen | |
für die Betroffenen sind sehr ähnlich. Deshalb fände ich es sinnvoller, | |
wenn insgesamt gründlicher geguckt werden würde, was Menschen dazu bringt | |
zu mobben und welche Wege es für die Betroffenen gibt, sich zu verhalten. | |
Welche Muster meinen Sie denn? | |
Meiner Erfahrung nach mobbt jemand, weil er nicht gelernt hat, mit eigenen | |
Konflikten und Problemen so umzugehen, dass er sie sieht und Strategien zur | |
Bewältigung hat. Er projiziert seine Schwierigkeiten nach außen und möchte | |
sich selber stärken, indem er andere schwächt. | |
Aber der Kanal ist bei Cybermobbing ein anderer. | |
Genau, und die Folgen sind schlechter wieder zu beheben: Selbst wenn eine | |
Intervention gelingt und die beiden Parteien ihren Konflikt bereinigen | |
können, bleiben ja die Ausdrücke dieses Prozesses – Schmähungen, Fotos, | |
Videos – im Netz. Wenn es analog passiert, dann haben das zwar auch andere | |
mitbekommen, aber es steht nicht mehr so in der Welt. In einer Schulklasse | |
kann man sich dann die Hände schütteln und sagen: „Okay, das war jetzt | |
schlecht, wie es gelaufen ist, und wir wollen beide, dass es anders läuft.“ | |
Das hilft im Netz nicht. | |
Wie hat sich Mobbing, von Cybermobbing mal abgesehen, in Ihrer Laufbahn | |
verändert? | |
Mobbing hat es immer gegeben. Aber der Umgang damit hat sich verändert. Ich | |
glaube nicht, dass es wirklich mehr geworden ist, sondern dass die | |
Aufmerksamkeit mehr geworden ist. Es wurde früher vielleicht nicht ernst | |
genug genommen. | |
Wie sieht der Umgang damit an Ihrer Schule aus? | |
Bei uns an der Schule gibt es zwei Vertrauenslehrer:innen, von denen eine | |
ich bis vor zwei Jahren war. Wir haben versucht, ein System in unserer | |
Schule zu implementieren, in dem klar ist, an wen man sich wenden kann und | |
wie man mit Betroffenen umgehen kann, ohne sie zu überfahren. Es ist häufig | |
der Fall, dass jemand etwas mitbekommt und den Prozess an sich reißt, über | |
den Kopf des Betroffenen hinweg. Was dann im Grunde genommen mehr vom | |
Selben ist: Wieder wird mit demjenigen etwas gemacht. | |
Und wie genau vermitteln Sie den Schüler:innen dieses System? | |
In der Schüler:innenvertretung ist das ein Thema, und am Anfang jeden | |
Schuljahres werden die neuen Vertrauenslehrer:innen und die | |
Schüler:innenvertretung vorgestellt und es wird darauf hingewiesen, | |
wie wir mit Schwierigkeiten umgehen und wer ansprechbar ist – nicht nur bei | |
Mobbing, sondern auch bei anderen schulischen Schwierigkeiten, häuslichen | |
Problemen, Drogenproblemen. An der Schule gibt es auch Plakate, auf denen | |
die privaten Nummern der Vertrauenslehrer:innen stehen. Sodass klar | |
ist, dass fast jederzeit jemand ansprechbar ist. | |
Wenn es dann zu einem Mobbingfall kommt: Wie sieht eine Intervention aus? | |
Ich würde zunächst nachfragen: „Was ist wann passiert, wie geht es dir?“ | |
Und dann genau hinhören und zusammen überlegen, wie es weitergehen kann. | |
Eine Möglichkeit ist, den Mobber mit ins Boot zu holen, ohne ihn als Täter | |
zu stigmatisieren und zu schauen, wie er in den Prozess eingebunden werden | |
kann, sodass er seine Macht, die er ja über andere hat, im Positiven | |
einsetzt. Manchmal kann es auch sinnvoll sein, den Täter klar zu | |
konfrontieren: „Wir wissen davon und haben ein Auge auf dich.“ Im Laufe der | |
Zeit versucht man herauszufinden, was ihn dazu bringt zu mobben; welches | |
Bedürfnis also im Mangel ist. | |
In Ihrem Buch erscheint die gemobbte Protagonistin tagelang nicht zum | |
Unterricht, an die Eltern kommt man schlecht ran. Haben Sie so etwas selbst | |
erlebt? | |
Ja. Ich war bei den ersten Malen erstaunt, dass das überhaupt geht. Als ich | |
an die Schule kam, dachte ich: Wenn jemand nicht kommt, passiert sofort | |
etwas. Das ist aber nicht so. In der Sekundarstufe zwei gibt es keine | |
Klassenverbände mehr – bis da überhaupt auffällt, dass jemand fehlt, dauert | |
es eine Weile. Und die Kolleg:innen sind zum Teil so überfordert, dass | |
sie selbst dann gar nicht ständig dran sein können. Obwohl es den Wunsch | |
gibt, fürsorglich und achtsam zu sein. Die Betroffenen selber ziehen sich | |
zudem zum Teil ganz stark zurück. Manche kommen zwar zur Schule, sind aber | |
eigentlich gar nicht da. Die Kolleg:innen, die nicht zusätzlich geschult | |
sind, haben kaum eine Chance, an so jemanden heranzukommen. | |
Sie schreiben, dass es die Protagonistin schafft, wieder selbstbestimmter | |
zu handeln. Wie macht sie das? | |
In dem Fall dreht sie die Rollen um und wird selbst zur Mobberin. Es endet | |
damit, dass sie ihre Peiniger in Lebensgefahr bringt und sich selbst tötet. | |
Die wiedererlangte Selbstbestimmtheit trifft also nur auf einen ganz | |
schmalen Bereich ihres Lebens zu. Sie merkt, dass diese Umkehr ein Weg ist, | |
der ihre Isolation und Einsamkeit nur noch stärker macht. | |
Warum haben Sie dieses schlimme Ende gewählt? | |
Die Täterin, die zuerst gemobbt hat, wird gerettet. Dann stand ich vor der | |
Frage: Was passiert mit Jana, also der Protagonistin, die zuerst gemobbt | |
wurde? Ich hätte sie am liebsten auch gerettet und alles hübsch aufgelöst. | |
Aber so ist es nicht im Leben. Durch Mobbing gehen wirklich viele Menschen | |
kaputt, sie leiden ihr Leben lang. Ich wollte das auf keinen Fall | |
beschönigen und eine einzelne engagierte Lehrerin alle retten lassen. Die | |
Möglichkeit, Menschen rechtzeitig und langfristig zu helfen, ist zwar | |
gegeben, aber sie liegt in den seltensten Fällen in der Hand einer aktiven | |
und achtsamen Heldin – sondern sie liegt im System: im Elternhaus, in der | |
Schule, in der Gesellschaft. | |
In einem System, in dem es vor allem um Leistung geht. | |
In dem Konflikt stehen alle Lehrer:innen. Wir sind Pädagog:innen, möchten | |
Menschen helfen zu wachsen. Gleichzeitig müssen wir aussortieren. Aber das | |
geht nicht: Ich kann nicht jemanden wertschätzen und ihn gleichzeitig an | |
anderer Stelle abwerten. Diese Institution ist ein Widerspruch in sich. Und | |
die Schüler:innen können nicht sagen: „Das ist mir zu blöd, da geh ich | |
nicht mehr hin.“ Es gibt die Schulpflicht. Das macht es noch mal brisanter. | |
Die Dynamiken, Ängste und Bedürfnisse sind die gleichen wie bei allen | |
Zusammentreffen von Menschen. Unser Leben ist so strukturiert, dass wir dem | |
nicht ausweichen können. Also wäre die Schule eigentlich der ideale Ort, um | |
zu lernen, mit diesen Ängsten, Wünschen und Konflikten umzugehen. | |
Aber dafür ist wenig Zeit. | |
Das ist ja sowieso das Problem. An unserer Schule haben wir für 2.000 | |
Schüler:innen zwei Vertrauenslehrer:innen; und jede:r hat eine Stunde | |
pro Woche Unterrichtsermäßigung. Schätzungen sagen, dass zwischen zehn und | |
25 Prozent der Schüler:innen Mobbingerfahrungen haben – also hier | |
mindestens 200. Und wir sind normal für Pausenaufsichten eingeteilt, obwohl | |
dann natürlich die Schüler:innen kommen. Die Ressourcen sind absolut | |
nicht da! Am Anfang hatte ich nicht mal ein Büro – mindestens zehn Jahre | |
lang wurden Gespräche auf dem Flur geführt. Da soll ein Jugendlicher kommen | |
und darüber sprechen, dass er gemobbt wird – und die Mobber stehen zehn | |
Meter weiter und gucken. | |
Ist das Problem doch noch nicht so bewusst? | |
Doch. In Artikel eins des Grundgesetzes geht es um die Würde des Menschen, | |
in Artikel zwei steht ein Diskriminierungsverbot. Es gibt die | |
Kinderrechtskonvention der Vereinten Nationen. Es gibt die | |
Antidiskriminierungsstelle beim Bund und unendlich viel Material zum Thema, | |
Absichtserklärungen, schöne Worte. Sprich: eine Übereinkunft darüber, dass | |
es wichtig ist, Diskriminierung zu bearbeiten. Aber unten kommt es nicht | |
an, die Arbeit soll einfach so nebenbei passieren. | |
5 Dec 2021 | |
## AUTOREN | |
Alina Götz | |
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