| # taz.de -- Buch über Jugend in Neu-Tempelhof: Wo man sich schön verlaufen ka… | |
| > Die Suche nach ruhigen Straßen in Berlin führte erst nach Neu-Tempelhof. | |
| > Dann zu Manfred Suttingers Buch über seine Kindheit dort. | |
| Bild: Ein Hauch von Le Corbusier: die Kirche St. Judas Thaddäus in Neu-Tempelh… | |
| Die Abendspaziergänge in den ersten Lockdown-Wochen brachten mich, wenn es | |
| in Parks in Schöneberg und auf den Straßen Kreuzbergs zu voll wurde, nach | |
| Neu-Tempelhof. In der ehemaligen Gartenstadt gegenüber vom [1][Tempelhofer | |
| Flugfeld] kann man sich erstens wunderbar verlaufen, denn viele Straßenzüge | |
| sind gebogen wie ein Hufeisen, und während man denkt, man läuft geradeaus, | |
| landet man wieder nahe am Ausgangspunkt. Zweitens ist es ruhig, beinahe | |
| dörflich zwischen Teilen der Gartenstadt, und die Fantasie liegt nahe, | |
| Berlin schon verlassen zu haben, allein weil es so still ist. | |
| Drittens gibt es viel zu entdecken, wie die ungewöhnliche, 1959 aus | |
| geschwungenem Beton und Glasbausteinen gebaute Kirche St. Judas Thaddäus, | |
| die ein wenig an [2][Le Corbusier] erinnert; wie Torhäuser, die dem ganzen | |
| Ensemble etwas Verstecktes und Feudales verleihen, oder den Parkring, ein | |
| teils niedriger als die Straßen verlaufender Park, der unter Brücken | |
| durchführt und überraschend lauschig gestaltet ist. | |
| Nach solchen Spaziergängen habe ich nicht selten auf Wikipedia nach | |
| Informationen und Geschichten zu dem Stadtteil gesucht. Und so zum Beispiel | |
| erfahren, dass der Parkring 2003 fast einem Mitarbeiterparkplatz des St. | |
| Joseph-Krankenhauses hätte weichen sollen. Eine Anwohnerinitiative – vielen | |
| Dank dafür – hat dies verhindert: und die, so kann man ihrer Website | |
| [3][parkringneutempelhof.de] entnehmen, veranstaltet auch Konzerte im Park. | |
| 2019 zumindest war das noch so. | |
| Das Interesse an dem Viertel, das in den 1920/30er Jahren entstanden war, | |
| war also geweckt, da erreichte die Redaktion ein Buch, in dem der Autor, | |
| Manfred Suttinger, von seiner Kindheit in Neu-Tempelhof erzählt, „Als ich | |
| Kennedy verpasste“. 1957 geboren, wuchs er mit seinen Eltern und einer | |
| Schwester in einer Doppelhaushälfte auf, die sein Vater dort geerbt hatte. | |
| Was er beschreibt, ist einerseits sehr persönlich, ausführlich widmet er | |
| sich etwa der unglücklichen Ehe der Eltern. | |
| Damit entsteht andererseits aber eine sehr anschauliche Erzählung über die | |
| frühe Nachkriegszeit, die Vermeidung von Schuldfragen, den Umgang mit | |
| Verletzungen und Kränkungen seit dem Zweiten Weltkrieg, die das Schweigen | |
| zwischen den Eheleuten und die Stummheit des Vaters gegenüber seinen | |
| Kindern zu einem erheblichen Teil ausmacht. Die Siedlung, ihre Häuser, die | |
| kleinstädtische Struktur, ihre Gärten, die auch für die Selbstversorgung | |
| der Bewohner gedacht waren, spielen dabei eine große Rolle. | |
| ## Schrumplige, mehlige Äpfel | |
| Auf dem Buchtitel sieht man den Autor als Jungen auf einer Schaukel, sie | |
| hing am Boskoop-Baum im Garten. Die Boskoop-Äpfel hat er gehasst, denn nie | |
| durften die Kinder sie essen, wenn sie frisch und knackig waren. Sie wurden | |
| eingelagert und zum Schulbrot mitgegeben, und immer waren noch alte, | |
| schrumplige, mehlige Äpfel da, wenn neue geerntet wurden. | |
| Detailreich, manchmal mit trockenem Humor illustriert Suttinger die | |
| Sparsamkeit seiner Kindheit, die seine Mutter direkt in die von der Kirche | |
| organisierte Umweltbewegung führte. Das Eingeweckte stand im Keller, aber | |
| als die Mutter auch Strom und Licht zu sparen begann, fiel sie im Dunkeln | |
| die Kellertreppe runter. | |
| Er erzählt von der Schule, von vielen noch vom Nationalsozialismus | |
| geprägten Lehrern, autoritär bis zum Sadismus. Frau Kränke, die das | |
| Kinderturnen leitete, umschlich die gebeugten Rücken wie ein „Raubtier“, | |
| und wer nicht krumm genug war, dem schob sie mit „wippenden Bewegungen die | |
| noch biegsamen Kinderknochen in die gewünschte Stellung“. | |
| Die Klassenlehrerin seiner Schwester, ehemals Funktionärin im | |
| Nationalsozialistischen Lehrerbund, zog Unfolgsame an den Haaren, verteilte | |
| Kopfnüsse und ließ niemanden auf Toilette. „Nach Lesart der Nazis“, | |
| schreibt Suttinger, „gehörte der Leib dem Staat, der ihn nach Belieben | |
| drillen und kampftauglich machen durfte.“ Kritik unter den Eltern löste das | |
| in jenen Jahren nicht aus. | |
| ## Verlust der sozialen Kontaktformen | |
| Ausführlich, und das liest sich unterhaltsam, schreibt er auch über die | |
| sich verändernden Konsumgewohnheiten in den 1960er Jahren, als Supermärkte | |
| den kleinen Einzelhandelsgeschäften den Garaus machten. Er rekonstruiert | |
| dabei die Perspektive seiner Kindheit, den Missmut, dass seine sparsame | |
| Familie eben nicht aus dem Versandhaus bestellte und die Elternhäuser der | |
| Nachbarskinder viel anziehender auf ihn wirkten, offen für | |
| Neuanschaffungen. | |
| Zugleich aber erzählt er vom Verlust der sozialen Kontaktformen, als man | |
| eben nicht mehr zum Milchhändler, der den Milchtank im Tresen hatte, und | |
| zum Uhrmacher ging. | |
| Der Parkring, den ich jetzt so gern durchstreife, taucht auf als ein | |
| Gelände, dass die Mutteraugen stets nach Gefahren absuchten – nicht auf das | |
| Nilpferd klettern, man könnte runterrutschen. Suttingers Film der | |
| Vergangenheit findet im Bild der Straßen von Neu-Tempelhof noch immer viel | |
| Wiedererkennbares in der kleinteiligen Struktur. Man könnte das Buch dort | |
| auf einer Parkbank lesen. | |
| 13 Aug 2020 | |
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| ## AUTOREN | |
| Katrin Bettina Müller | |
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