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# taz.de -- Die Wahrheit: Die Erfindung des Turmtauchens
> Neuerdings wird allüberall beklagt, Kinder könnten nicht mehr schwimmen.
> War das früher eigentlich anders?
Bild: Schwimmflügel in klassischem Siebziger-Jahre-Orange, dann strampelnd üb…
Ich kann bis heute nicht richtig schwimmen. Wie haben das eigentlich die
anderen Menschen meiner Alterskohorte gelernt? In der Schule? Schwimmkurs?
Nach der guten alten Nazi-Methode: Vom Vater mit einem Arschtritt ins tiefe
Becken gestoßen?
Mein Problem war: In der Grundschule hatten wir keinen Schwimmunterricht.
„Kurse“, egal welcher Art, galten bei uns zu Hause als überflüssige
Schnöselei, und da ich ohne männlichen Erziehungsberechtigten aufwuchs,
vermittelte mir auch niemand, dass das Leben ein Stahlbad ist und man zäh
sein muss, um „diese große Scheiße“ (Helmut Schmidt) zu überleben.
Als ich zehn war, beschloss meine Mutter daher, dann müsse sie mir eben das
Schwimmen beibringen. Doof war nur: Sie konnte es selbst nicht. Also kaufte
sie Schwimmflügel in zwei Größen. Einmal für Erwachsene, einmal für Kinder.
In klassischem Siebziger-Jahre-Orange. Wir fuhren jeden Dienstag mit der
Straßenbahn ins Kasseler „Stadtbad Mitte“ und versuchten, uns strampelnd
zwei Stunden über Wasser zu halten. Eigentlich wie den Rest der Woche.
Hinterher gab es Pommes und Fanta. Darauf freute ich mich. Schwimmen – ohne
Flügel – lernte ich so aber auch nicht.
Kurze Zeit später besuchte ich regelmäßig mit einer Gruppe von Kindern aus
unserer Jehovas-Zeugen-Gemeinde das Hallenbad in Baunatal. Die Jehovas
Zeugen sind nicht gerade Meister der Jugendarbeit. Es gibt dort keine
kirchlichen Jugendgruppen oder gar organisierte Freizeiten. Insofern war
das regelmäßige Schwimmengehen für mich eine wichtige unterhaltsame
Abwechslung im öden fundamentalistischen Sektenalltag. Nur konnte ich eben
nicht schwimmen. Und meine Schwimmflügel anzuziehen, war mir peinlich. Also
ließ ich sie in der Sporttasche.
Die anderen schwammen, ich ging unter. Ich hielt die Luft an und machte
unter Wasser Schwimmbewegungen. So lernte ich tauchen. Als
nichtschwimmender Taucher konnte ich sogar vom Fünfer springen. Ich stieg
auf den Turm, konzentrierte mich, schickte ein kurzes Stoßgebet zu Jehova,
sprang, versuchte mich unter Wasser zu orientieren, tauchte bis an den
Beckenrand und kletterte heraus. Eine verzweifelte, aber effektive
Selbstermächtigungsaktion. Mit leichter göttlicher Unterstützung. Die
anderen trugen stolz ihre Aufnäher auf den Badehosen- und anzügen:
Freischwimmer, Fahrtenschwimmer, Jugendschwimmschein. Ich überzeugte als
Handelnder.
Neulich überlegte ich, ob ich mir nicht wenigstens ein Seepferdchen auf die
Badehose nähen sollte. Für diese Prüfung habe ich vor einigen Jahren mit
meiner Tochter trainiert. Offizielle Anforderungen: „Mindestens 200 Meter
Schwimmen in maximal fünfzehn Minuten, einmal zwei Meter Tieftauchen mit
Heraufholen eines Gegenstandes, Sprung aus einem Meter Höhe“. Das müsste
ich hinkriegen. Zur Not würde ich auch noch mal beten.
26 Aug 2020
## AUTOREN
Hartmut El Kurdi
## TAGS
Kolumne Die Wahrheit
Schwimmen
Zeugen Jehovas
Kindheit
Komiker
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Drogen
Kolumne Die Wahrheit
Tim Bendzko
taz.gazete
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