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# taz.de -- Die Wahrheit: Ich bin schuld an Tim Bendzko
> Songtexte waren früher auf Englisch oder was ungeübte Ohren und kleinere
> Nagetiere dafür hielten. Heute sind sie auf Deutsch.
Bild: Schwimmflügel in klassischem Siebziger-Jahre-Orange, dann strampelnd üb…
Liebe Jugend: Früher gab es kein Internet zum Nachgucken. Da musste man,
wenn man wissen wollte, worum es in einem Popsong ging, diesen einfach
verstehen. Das gestaltete sich aber oft schwierig, weil die meisten Texte
auf Englisch waren. Damals sprachen die wenigsten Menschen in Deutschland
gut Englisch.
Wollte man einen Song zu Hause am Küchenradio mit- oder gar auf einer Bühne
nachsingen, obwohl man ihn nicht verstand, gab es verschiedene
Möglichkeiten. Man konnte sich für viel Geld ein „Songbook“ kaufen. Sehr
beliebt war zum Beispiel das „Beatles Complete“. Dafür musste man aber
locker zwanzig oder dreißig Mark auf den Tisch legen. Hatte man soviel
nicht, versuchte man herauszufinden, ob der gesuchte Song in einem „TOP
Schlagertextheft“ abgedruckt war. Und wenn ja, in welchem. Ein „TOP
Schlagertextheft“ kostete eine Mark fünfzig und war somit auch für Ärmere
erschwinglich.
Meistens aber – das war die Standardmethode – „hörte“ man sich den Text
trotz Englischschwäche „raus“. Oder „von der Platte ab“. Das hieß, man
schrieb größtenteils phonetisch mit – und gab das Lied dann live ebenso
lautmalerisch wieder.
Wenn Bands, die so ihre Coverversionen herstellten, dann irgendwann
begannen, eigene Songs zu schreiben, gingen sie ähnlich vor. Nur im kurzen
Sommer der Neuen Deutsche Welle war es anders. Danach aber tackerten die
hiesigen Songschreiber sofort wieder wahllos ein paar real existierende
englische Klischee-Reime zusammen – maybe, baby; walk, talk; cry, high –
und bewegten sich ansonsten eher im Bereich einer quasi-dadaistischen
angloamerikanischen Klanglyrik. So sangen sie dann oft etwas, das für
ungeübte Ohren und kleinere Nagetiere zwar wie Englisch klang, aber keinen,
kaum einen oder einen nicht beabsichtigten Sinn ergab.
Das deprimierte mich – als jemanden, der zufällig, familiär bedingt,
einigermaßen gut Englisch spricht – enorm. Deswegen stellte ich mich in den
frühen neunziger Jahren auf Marktplätze und an Straßenecken und predigte:
„Singt Deutsch, ihr Spackos!“ Und die Bands antworteten: „Aber dann klingt
alles so banal!“ Ich aber sprach: „Ist doch wurscht. Dann klingt es eben
banal. Sagt, was ihr zu sagen habt, und tut es in einer Sprache, die ihr
beherrscht. Alles andere ist Mumpitz!“ Und die Bands und Singer-Songwriter
hörten auf mich und sangen fortan auf Deutsch.
Dafür möchte ich mich hier an dieser Stelle aufrichtig entschuldigen. Von
ganzem Herzen. Aus tiefster Seele. Es war falsch. Ich wollte niemals, dass
so etwas wie Tim Bendzko passiert. Oder Revolverheld, Johannes Oerding,
Silbermond, Max Giesinger, Andreas Bourani, Philipp Poisell. Oder gar
Xavier Naidoo.
Ich wünschte mir, deutsche Künstler sängen wieder, wie einst die Berliner
Beatband The Lords: „When I was young, you know / I couldn’t speak and go /
my mother worked each day / and she learned me to say!“
Die Welt wäre eine bessere.
24 Jun 2020
## AUTOREN
Hartmut El Kurdi
## TAGS
Tim Bendzko
Popmusik
deutsch
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Drogen
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