| # taz.de -- Die Wahrheit: Heimliche Abstinenz | |
| > In unseren Breitengraden ist das Trinken üblich. Dabei könnte es doch | |
| > sinnlosere und zugleich bezauberndere Drogen geben als Flüssigstoffe. | |
| Bild: Schwimmflügel in klassischem Siebziger-Jahre-Orange, dann strampelnd üb… | |
| Immer wenn meine Mutter ausnahmsweise mal einen Schluck – also im | |
| wörtlichen Sinne: einen Mund voll – Alkohol trank, sagte sie: „O, das | |
| steigt mir aber in den Kopf!“ Dann wurde sie rot, als sei ihr ein | |
| Untenrumwitz rausgerutscht – und war augenblicklich blau. Für mehrere | |
| Stunden. Zumindest dachte sie das. Vielleicht war sie es auch wirklich. | |
| Möglicherweise fehlte ihr aufgrund einer bisher unbekannten oberhessischen | |
| Genmutation ein Alkohol-Abbau-Enzym. So wie angeblich fünfzig Prozent der | |
| Menschen aus dem pazifischen Raum. Deswegen trank sie so gut wie nichts. | |
| Ich trinke gelegentlich. Aus dem gleichen Grund, aus dem ich Hosen trage. | |
| Weil es üblich ist. Wäre etwas anderes üblich, trüge ich Röcke und rauchte | |
| Opium. Meistens lasse ich es aber. Nicht das mit den Hosen, sondern das mit | |
| dem Alkohol. Beziehungsweise: Ich vergesse es. | |
| Wenn ich nicht hin und wieder ausginge und andere Menschen beim | |
| Sichzuballern beobachtete, käme ich überhaupt nicht auf den Gedanken, mir | |
| selbst einen reinzudrehen. Während des Lockdowns haben mich nur Filmfiguren | |
| daran erinnert, dass es diese Option gibt. Und daran, dass ich noch Whiskey | |
| im Schrank hatte. Irgendwann – Thomas Shelby von den „Peaky Blinders“ | |
| genehmigte sich mal wieder einen Drink –, goss ich mir auch einen ein, | |
| kippte ihn hinunter und dachte, vor dem Fernseher stehend, mit dem Glas in | |
| der Hand: Ja, kann man machen. Oder auch lassen. Wobei mir die Praxis des | |
| Synchrontrinkens mit Filmcharakteren, wie sie René Pollesch in einem seiner | |
| frühen Stücke beschreibt, durchaus gefällt. Aber nur wegen der | |
| Fiktion-Realitäts-Vermischung. | |
| Eigentlich würde ich mit meiner Haltung zum Trinken besser in den | |
| Kulturkreis passen, in dem ich geboren wurde, als in den, in dem ich | |
| aufwuchs. In vielen Teilen des Orients muss man ja inzwischen bestimmte | |
| Orte aufsuchen, um Alkohol zu konsumieren – Hotelbars oder Nachtklubs. Oder | |
| man muss privat und heimlich trinken. Bei uns hingegen gibt es kaum eine | |
| Gelegenheit, bei der man keine Flüssigdrogen aufgedrängt bekommt, und wenn | |
| man nicht ständig doofe Fragen beantworten will, sollte man lieber so tun, | |
| als ob – und dann heimlich nichttrinken. | |
| Alkohol war mir schon immer zu ergebnis- und wirkungsorientiert. Wie die | |
| meisten anderen Substanzen, die einen richtigen Rausch erzeugen. Ich | |
| pflegte auch selten Umgang mit Intensivtrinkern. So saßen mein | |
| Ex-Mitbewohner und Immer-noch-Kumpel Matthias Günther und ich – statt uns | |
| gemeinsam zu besaufen – lieber stundenlang an unserem Küchentisch und | |
| bliesen uns gegenseitig Marlboro-Qualm ins Gesicht. Das hatte eine ganz | |
| eigene Schönheit. | |
| Ohne die gesundheitlichen Folgen wäre Rauchen, insbesondere das gemeinsame, | |
| die bezauberndste und absurdeste Form des Drogenkonsums – und eine | |
| wunderbare Metapher für so vieles: kein Rausch, kein Sinn, nur neblige | |
| Semitransparenz und verwehende Zeit … | |
| 30 Sep 2020 | |
| ## AUTOREN | |
| Hartmut El Kurdi | |
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