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# taz.de -- Die Wahrheit: Der letzte Walzer
> Eins-zwo-drei-Eins-zwo-drei: So geht ein Walzer. Schade, dass er im Pop
> so selten ist. Paar gute Beispiele lassen sich trotzdem finden.
Bild: Schwimmflügel in klassischem Siebziger-Jahre-Orange, dann strampelnd üb…
Der erste Walzer, den ich als solchen wahrnahm, war „[1][Mull of Kintyre]“
von Paul McCartney. Da war ich dreizehn. Ein Freund hatte mir die Single
ausgeliehen. Ich legte sie auf und verstand augenblicklich, was ein
Dreivierteltakt war. Nicht kapiert hatte ich den Dreier bis dahin bei
„[2][Norwegian Wood]“. Hier bemerkte ich nur bei jedem Hören, dass der Beat
irgendwie auf charmante Weise humpelte und rumpelte.
Der Walzer ist nämlich ein Stolperer. Ein Strauchler ohne Hinfallen. Das
war mir fremd. Ich kannte bis dahin nur durchratternde Viervierteltakte.
Manchmal tänzelnd synkopiert, okay. Aber doch immer „four to the bar“. Der
Dreier bei „Norwegian Wood“ war nicht so offensichtlich und nicht so
eins-zwo-drei-eins-zwo-drei-aufdringlich wie bei „Mull of Kintyre“ – eher
in einen dylanesken Sechsachtel lappend. Aber Walzer bleibt Walzer.
Bevor mich nun ein Klugscheißer-Shitstorm ereilt: Selbstverständlich weiß
ich, dass nicht jeder Dreivierteltakt ein Walzer ist. Aber da man mit einem
bisschen guten Willen auf alles Walzer tanzen kann, was drei oder sechs
Zählzeiten hat, selbst auf ein steifes Menuett, bin ich da eher tolerant.
Der Begriff „Walzer“ taucht angeblich zum ersten Mal bei Schiller auf. In
der Ballade „[3][Eberhard der Greiner]“ im Zusammenhang mit einer Feier:
„Und Weib und Kind im Rundgesang / Beim Walzer und beim Becherklang /
Lustfeiern unser Glück.“ Überhaupt gilt der Walzer als heiterer Tanz.
Demgegenüber sind aber die meisten Waltz-Songs der angloamerikanischen
Popularmusik eher melancholisch, oft sogar todtraurig.
## Fine Time
In [4][„Lucille“ von Kenny Rogers] sagt ein Mann zu seiner ihn gerade
verlassenden Frau: „You picked a fine time to leave me, Lucille / With four
hungry children and a crop in the field.“ In der noch wesentlich
deprimierenderen [5][deutschen Version von Michael Holm] ist der Nachwuchs
nicht nur hungrig und die Ernte steht auf dem Feld – hier sind die Kinder
gleich „krank und die Schulden so viel“. Respekt, Herr Holm.
Der Titel von Hank Williams’ Klassiker „[6][I’m so lonesome I could cry]�…
spricht für sich – und das vielleicht schönste Walzerlied aller Zeiten,
„Mr. Bojangles“, geschrieben von dem Countrymusiker Jerry Jeff Walker,
beschreibt einen alten versoffenen Entertainer, der in einer Gefängniszelle
für die Mitgefangenen tanzt. Und ihnen, während er steppt, aus seinem Leben
erzählt, unter anderem von seinem … – Jessesmaria, geht es noch trauriger?
– … toten Hund!
Weltberühmt wurde „[7][Mr. Bojangles“ durch Sammy Davis jr.], der –
abergläubisch, wie er war – den Song erst gar nicht singen wollte, weil er
Angst hatte, selbst wie Mr. Bojangles eines Tages als verarmter und
abgehalfterter Künstler zu enden. Das Lied wurde dann einer seiner größten
Hits. Und Jerry Jeff Walker dürfte es ein sorgenfreies Restleben beschert
haben. Bis letzten Freitag. Da starb Jerry Jeff.
One-two-three-one-two-three. And then he clicked his heels.
28 Oct 2020
## LINKS
[1] https://www.youtube.com/watch?v=OrbuDWit1Co
[2] https://www.youtube.com/watch?v=yxOm6odF32w
[3] https://www.friedrich-schiller-archiv.de/gedichte-schillers/anthologie-auf-…
[4] https://www.youtube.com/watch?v=4SDVkdcO8ts
[5] https://www.youtube.com/watch?v=hVefTZTHODA
[6] https://www.youtube.com/watch?v=4WXYjm74WFI
[7] https://www.youtube.com/watch?v=-Fju4UajL7g
## AUTOREN
Hartmut El Kurdi
## TAGS
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Musikgeschichte
Beatles
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