# taz.de -- Die Wahrheit: Hannoversche Quarantäneforschungen | |
> Eine musikalische Sozialisation in den siebziger Jahren musste nicht | |
> unbedingt zu Protestformen führen. Nicht jeder brauchte einen Iro auf dem | |
> Kopf. | |
Seit Beginn der Coronakrise mache ich täglich eine Fahrradtour durch | |
Hannover. Erstens drohe ich extrem aufzumopsen, mein Körper verlangt also | |
nach körperlicher Betätigung, und zweitens wohne ich zwar seit elf Jahren | |
in der niedersächsischen Landeshauptstadt, dennoch sind mir weite Teile der | |
Stadt immer noch so fremd wie die russische Tundra oder die Liebe der | |
Deutschen zum Spargel, dem einzigen Gemüse, dem es im gekochten Zustand | |
gelingt, gleichzeitig matschig und faserig zu sein. Anderes Thema … | |
Meine Hannover-Expeditionen stehen in der Tradition der Forschungsreisen | |
von Charles Darwin, Alexander von Humboldt und Fridtjof Nansen. Als | |
Forschungsreisender ist es wichtig, den Forschungsobjekten unvoreingenommen | |
zu begegnen und immer bereit zu sein, Neues in die Beobachtungsliste | |
aufzunehmen. Um Letzteres zu forcieren, besitze ich erst gar keine Liste. | |
Meist fahre ich einfach blind los, und erst wenn ich komplett die | |
Orientierung verloren habe, bemühe ich Google Maps. | |
Wichtig ist bei solchen Expeditionen auch die Ausrüstung. Ich habe immer | |
eine Wasserflasche dabei, Studentenfutter, einen Apfel, mein Schweizer | |
Offiziersmesser, und – ein bisschen Spaß muss sein – ich trage einen | |
Tropenhelm, den mein Freund Tim als Jugendlicher im Kostümfundus des Thalia | |
Theaters in Hamburg hat mitgehen lassen. Auf der Bühne des Thalias | |
schmückte der Helm den Kopf von Ulrich Pleitgen. Im Theater gibt es ja | |
immer kleine Namensschildchen in den Kostümen. Noch vor wenigen Wochen wär | |
ich mit dieser Kopfbedeckung sofort aufgefallen, jetzt aber, da die | |
Menschen eigenwilligste Gesichtsmasken tragen, scheint sich niemand mehr | |
für exzentrische Helme zu interessieren. | |
Ich stand auf meinen Touren bereits am Gedenkstein für die von Fritz | |
Haarmann ermordeten jungen Männer, am Geburtshaus Hannah Arendts, an öden | |
Nazi-Löwen, die zu meiner Überraschung Hitlers Darling Arno Breker himself | |
an den Maschsee modelliert hat, und an einem Tor mit dem Schild | |
„Hannoverscher Yacht Club“, bei dem ich sehr lachen musste. Yachten für | |
einen Karpfenteich. | |
Die ehemalige Adresse von Veronica Ferres’ Toyboy Carsten Maschmeyer fuhr | |
ich gezielt an, musste jedoch feststellen, dass seine geschmacklose | |
Protzvilla inzwischen abgerissen wurde. Ich wollte sie sehen, weil die | |
Lokalpresse einst schrieb, die Villa sehe aus, „als ob ein | |
Versicherungsvertreter zu Geld gekommen ist und es nun mal allen zeigen | |
will“. Ich dachte damals: Was heißt hier „als ob“. | |
Morgen fahre ich – ausnahmsweise geplant – sozialdemokratische Weihestätten | |
ab: das Haus, in dem Kurt Schumacher die SPD neu gründete, das Gymnasium, | |
an dem Stephan Weil Abitur machte, und die Gaststätte Plümecke, in der | |
Gerhard Schröder angeblich öfter bei einer Currywurst entspannte, wenn es | |
bei seiner damaligen Frau Hiltrud wieder mal nur Tofuschnitzel gab. Brüder, | |
zur Sonne, zur Freizeit! | |
29 Apr 2020 | |
## AUTOREN | |
Hartmut El Kurdi | |
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