# taz.de -- Debütalbum von Inga: Das geheime entschleunigte Leben | |
> „Tears and Teeth“: Ingas Musik ist große, elegante Songwriterkunst – u… | |
> steht für eine neue Ära beim Münchner Label Trikont. | |
Bild: Film? Sie macht Musik: Inga aus München | |
„Ich hab die ja nicht belogen, ich hab’s einfach nicht erzählt!“ Die | |
Gitarre stand schon längst im Keller, als sie ihr Geheimnis dann doch | |
preisgab. Außer ihren Lebenspartnern wusste lange Jahre niemand, dass Inga | |
Riedel manchmal, einfach so als Hobby, zum Runterkommen, eben auch Musik | |
komponiert. Rumbasteln am Laptop, Aufnahmen im Auto. Und plötzlich, ein | |
paar Monate später, hat die Münchnerin, die knapp vor der Coronapause genau | |
ein einziges Konzert spielte, ein Album veröffentlicht, es heißt „Tears and | |
Teeth“ und erscheint beim traditionsreichen Münchner Label Trikont. | |
„Das hat sich einfach so ergeben, weil ich mich beim dritten Bier | |
verplappert habe und auf die Frage, ob ich Musik mache, einfach Ja gesagt | |
habe“, kann sie es beim abendlichen Telefonat vom Rand des Kneippbecken | |
ihres Hotels im Bayrischen Wald noch immer kaum fassen. Sie ist gerade mit | |
Dreharbeiten beschäftigt, Riedel arbeitet als Beleuchterin – aber nur an 80 | |
Tagen im Jahr, so ist es ihre Regel. „Ich bin keine Musikerin, ich mache | |
Musik, ich bin keine Künstlerin, ich mache Kunst, ich bin keine | |
Arbeitnehmerin, aber ich gehe manchmal für Geld arbeiten“, erklärt sie. | |
Das Filmumfeld ermöglicht ihr, so zu leben, wie sie möchte. Trotzdem hat | |
sie vor Jahren auf einer Schweizer Alm und einem brandenburgischen | |
Ziegenhof das Käsemachen gelernt. „Viele fragen mich: Wie lebst du denn? | |
Ich weiß es auch nicht, aber es funktioniert. Ich kann nicht sagen, was ich | |
bin. Vielleicht wachse ich noch mal irgendwo rein.“ | |
Zurzeit studiert sie Kunst in München. Mit fast 40 im Grundstudium, das hat | |
sie skeptisch werden lassen, erzählt sie, skeptisch auch, was das sein | |
soll: Kunst. „Ich bin mit einem Arschtritt von einer Freundin da | |
reingetreten worden“, beschreibt sie es, ihre Bewerbungsmappe entstand | |
durch Improvisation: „Na, ich habe eh Zeit, also mache ich so eine Mappe, | |
mit Fotos, was ich eben so mit dem Telefon fotografiert habe – und habe | |
gemerkt: Das ist vielleicht Kunst – und das auch!“ | |
Pophymnen und Songwriter-Stücke | |
Ähnlich auf Anhieb funktionierte vielleicht auch ihr Debüt. Eingespielt hat | |
sie für „Tears and Teeth“ nichts mehr, lediglich neu gemischt wurde, was | |
bisher auf Festplatten und einer privaten Vinylpressung in einer Auflage | |
von 20 für das engste Umfeld lag: Musik mit Sample-Basteleien und | |
Pop-Appeal wie bei [1][Soap & Skin], kleine Pophymnen wie von Andreas Dorau | |
und Jens Friebe, Songwriter-Stücke wie von Bill Callahan, Chansons wie von | |
Serge Gainsbourg. Drei Sprachen – deutsch, französisch, englisch – und | |
zwölf Stile. Die Unlust Riedels auf Einordnung spiegelt sich in Ingas | |
wunderbarer Kraut-und-Rüben-Musik. | |
„Tears and Teeth“ steht auch für eine neue Ära bei ihrem Münchner Label. | |
[2][In den späten 1960ern gegründet, ist Trikont Anlaufstation für Musik | |
aus der bayerischen Szene], veröffentlichte das erste deutschsprachige | |
Rockalbum der Schwulenbewegung und die ersten explizit feministischen | |
Werke. Acts wie die HipHop-Crew [3][Kinderzimmer Productions] und der | |
Liedermacher [4][Georg Ringsgwandl] spannten später den Bogen, dazu gab es | |
hochwertige Musikarchäologie in Form von Samplern, die nicht weniger | |
vielfältig aufgestellt waren – die Palette reichte von finnischem Tango zu | |
den „Future Sounds of Ukraine“. Heute, in Zeiten von Spotify, sind | |
Auskopplungen kaum noch rentabel. Label-Urgestein Hans Söllner wiederum | |
wurde zuletzt engagiert von Trikont outgecallt für seine | |
Verschwörungstheorien zu Corona. Eine Zeitenwende, auch für das Label. | |
„Wir haben ganz lange drauf bestanden, nur deutschsprachigen Pop zu machen | |
– wir wollten schauen: Was passiert in unserer Sprache? Das haben wir total | |
durchbrochen. Das ist nicht im Ansatz mehr ein Kriterium“, erklärt | |
Label-Chefin Eva Mair-Holmes. Sichtbar wird das bei Acts wie der | |
Songwriterin Gudrun Mittermeier, die auf eine Popkarriere unter dem Namen | |
Somersault zurückblickt und nun auf dem aktuellen Album „Seeheim“ unter | |
ihrem eigenen das Bayrische mit dem Englischen verbindet. Oder bei Angela | |
Aux, die wiederum bürgerlich Florian Kreier heißt und dem außerbayrischen | |
Publikum am ehesten durch das Projekt Aloa Input bekannt ist, seit 2012 ein | |
Flaggschiff des New Weird Bavaria. | |
Randständiges in München | |
Angela Aux ist Kreier in Drag, die Lieder des 2019 erschienenen Albums „In | |
Love With the Demons“, seines vierten und ersten für Trikont, sind durchweg | |
blitzende Weird-Pop-Kleinodien zwischen Notwist und Jim Jarmusch, die zwar | |
charmant nach Landluft klingen, aber sicher nicht nach deutscher. Im Herbst | |
erschien außerdem Angela Aux’ erster Gedichtband mit sogenannten | |
„Textografien“ bei Trikont, Fotografien aus Texten. Der Titel könnte | |
angesichts des neuen Trikont-Selbstverständnisses kaum greifender sein: | |
„Utopien sind meine Heimatae“ heißt das Buch. | |
Heimat ist München für Inga Riedel wiederum seit Langem – auch und gerade | |
weil sich in der Stadt selten etwas verändert, sagt sie. Man verpasst nie | |
etwas, egal, wie lange man fernbleibt. Den blühenden musikalischen | |
Underground der Stadt lernte sie dennoch erst über den Umweg Montreal | |
kennen, über eine Bekannte, die sich von Kanada aus intensiv damit | |
auseinandersetzt. „Es hat mich motiviert und glücklich gemacht, dass es in | |
München Randständiges gibt, zu sehen, was für ein schöner Kreis von | |
Menschen das ist“, freut sich Riedel. | |
Teil dessen war sie schon lange. Seit jenem Bier zu viel mit den lokalen | |
Musikheroen Pico Be und Leo Hopfinger, die den Kontakt zu Trikont | |
herstellten, als sie vom geheimen Leben ihrer Freundin hörten, endlich auch | |
als Musikerin. | |
27 Jul 2020 | |
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## AUTOREN | |
Steffen Greiner | |
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