| # taz.de -- Aktivist zu Gemeinschaftsschulbeschluss: „Die Einigung ist histor… | |
| > Sachsen erlaubt das längere gemeinsame Lernen. Leider sind die Hürden | |
| > dafür hoch, sagt Burkard Naumann vom Bündnis „Gemeinschaftsschule in | |
| > Sachsen“. | |
| Bild: Gemeinsames Lernen mit Königspudel: In Thüringen gibt es seit zehn Jahr… | |
| taz: Herr Naumann, vergangene Woche hat der Sächsische Landtag das | |
| [1][Recht auf längeres gemeinsames Lernen beschlossen] und damit die | |
| Forderungen Ihres Volksantrags aufgegriffen. Was überwiegt bei Ihnen: die | |
| Freude darüber, dass der Freistaat nach jahrelangem Hin und Her die | |
| Gemeinschaftsschulen erlaubt? Oder der Ärger, dass die CDU sie mit hohen | |
| Hürden erschwert? | |
| Burkhard Naumann: Ich würde sagen, es herrscht verhaltende Freude. | |
| Natürlich ist der Landtagsbeschluss erst mal ein klarer Erfolg für uns. | |
| Ohne den Volksantrag wäre es nie so weit gekommen. Das liegt sicher auch an | |
| dem Zeitpunkt, an dem wir die mehr als 50.000 Unterschriften an den | |
| Landtagspräsidenten übergeben haben. Das war kurz vor den Landtagswahlen im | |
| vergangenen September. Dadurch, dass [2][SPD und Grüne den Volksantrag | |
| unterstützten] und das Thema längeres gemeinsames Lernen im Wahlkampf | |
| setzten, fanden sich Gemeinschaftsschulen dann auch im Koalitionsvertrag | |
| (von CDU, SPD und Grünen, Anm. d. Red.) wieder. Jetzt hat die Regierung | |
| Wort gehalten und sich mit dem Antrag befasst, leider nicht ganz in unserem | |
| Sinne. Mit der Auflage, dass Gemeinschaftsschulen in der Jahrgangsstufe 5 | |
| mindestens vier Parallelklassen vorweisen müssen, wird es in Sachsen nicht | |
| besonders viele davon geben. | |
| Laut der SPD-Bildungspolitikerin Sabine Friedel erfüllen nur 30 der | |
| insgesamt 280 Oberschulen in Sachsen dieses Kriterium. | |
| Das ist genau unsere Kritik. Wir hätten Gemeinschaftsschulen bereits ab | |
| zwei Parallelklassen zugelassen. Man muss aber auch sagen, dass der Landtag | |
| mit der neuen „Oberschule plus“ eine weitere Art Gemeinschaftsschule | |
| eingeführt hat, den wir auch [3][im Volksantrag] mit angeführt haben: | |
| nämlich eine Schule von der 1. bis zur 10. Klasse. Und die ist besonders | |
| für den ländlichen Raum eine Chance: Viele Oberschulen haben heute zu | |
| wenige Schüler, da die Gymnasiast:innen nach der Grundschule an eine andere | |
| Schule gehen. Mit der Umwandlung zur „Oberschule plus“ bleiben die | |
| Schüler:innen auch nach der 4. Klasse zusammen und kleine Schulen können so | |
| vor der Schließung bewahrt werden. | |
| Allerdings führt die „Oberschule plus“ nicht zum Abitur. Ist diese Form der | |
| Gemeinschaftsschule nicht eine Mogelpackung? | |
| Das sehe ich nicht so. Wenn, dann ist der Name die Mogelpackung. Denn die | |
| „Oberstufe plus“ ist nichts anderes als eine Gemeinschaftsschule, an der | |
| die Schüler:innen weiter zusammen lernen und nicht nach der 4. Klasse | |
| getrennt werden. Wer ein Abitur machen will, geht nach der 10. Klasse auf | |
| eine andere Schule. | |
| Stimmt, aber die wird – mit Ausnahmen der etwa 30 künftigen | |
| Gemeinschaftsschulen – weiterhin ein Gymnasium sein. Damit hat die CDU in | |
| Sachsen ja ihr erklärtes Ziel erreicht, das gegliederte Schulsystem | |
| beizubehalten. Böse formuliert: Die CDU hat nichts gegen | |
| Gemeinschaftsschulen, solange die Schüler:innen dort kein Abi machen | |
| können. Nirgends sieht man das besser als in Baden-Württemberg. | |
| Ich weiß, dass die CDU in Baden-Württemberg diese Haltung hat. Tatsächlich | |
| hat die CDU in Sachsen eine andere. Sie argumentiert eigentlich sogar | |
| anders herum: Nur wenn man auf der Gemeinschaftsschule auch das Abitur | |
| machen darf, ist es auch eine Gemeinschaftsschule. Die anderen Modelle des | |
| längeren gemeinsamen Lernens, die wir im Volksantrag noch mit aufgeführt | |
| hatten, hat sie rausgeschmissen. Das Modell von Klasse 1 bis 10 – die neue | |
| „Oberschule plus“ – darf deshalb auch nicht Gemeinschaftsschule heißen, | |
| weil man dort kein Abitur machen kann. Das ist schon ein interessanter | |
| Sinneswandel. | |
| Die [4][SPD feiert den Kompromiss mit der CDU] als „historischen | |
| Schulfrieden“, der das Kernanliegen des Volksantrags dennoch wahrt. Stimmen | |
| Sie zu? | |
| Die Einigung ist historisch, das sehe ich absolut genauso. Allerdings | |
| widerspreche ich in dem zweiten Punkt. Die meisten Forderungen aus unserem | |
| Volksantrag hat die Koalition zwar unberührt gelassen – etwa, dass es keine | |
| Bildungsempfehlung geben soll, oder dass die Gemeinschaftsschulen | |
| weitgehende pädagogische Freiheiten beispielsweise für | |
| jahrgangsübergreifenden Unterricht haben –, ein anderer Kern des | |
| Volksantrags aber war, dass die Gemeinschaftsschule überall dort ermöglicht | |
| werden sollte, wo Schule, Schulträger, Eltern und Schüler das wollen. Und | |
| das ist jetzt definitiv nicht der Fall. | |
| Wie viele Schulen in Sachsen wollen das denn überhaupt: auf ein längeres | |
| gemeinsames Lernen umsteigen? | |
| Es sind auf jeden Fall mehr Schulen dazu bereit, als die Hürden nun | |
| zulassen. Einige Kommunen haben schon öffentlich gemacht, dass sie diesen | |
| Weg gehen möchten, und prüfen jetzt, ob und wie schnell das klappt. Und | |
| dann gibt es ja die Modellschulen für gemeinsames Lernen, die 2007 | |
| eingeführt wurden – und dann unter Schwarz-Gelb wieder eingestampft wurden | |
| – und schon lange drauf warten, wieder offiziell als Gemeinschaftsschule | |
| arbeiten zu dürfen. Doch selbst diese Schulen, die schon jahrelange | |
| Erfahrung mit gemeinsamen Lernen haben, fallen jetzt raus, weil sie nicht | |
| groß genug sind. Das ist absurd. Und so wie den Modellschulen geht es den | |
| meisten Oberschulen: Sie erfüllen die Auflagen nicht. | |
| Der Sächsische Lehrerverband warnt davor, dass sich Oberschulen im | |
| ländlichen Raum deshalb gegenseitig die Schüler:innen streitig machen | |
| könnten. | |
| Na ja, über die Fragen, welche Schulen eingerichtet werden, entscheidet der | |
| Schulträger, nicht die Schulleitung. Insofern sehe ich die Gefahr nicht. | |
| Und selbst wenn sich Schüler, Eltern, Schulleiter und Kommune zusammentun, | |
| um eine Gemeinschaftsschule zu gründen, dann heißt das doch nur, dass es | |
| offenbar die passendere Schulform ist. | |
| Und eine zunehmend beliebte. Zwischen 2007 und 2017 hat sich die Zahl der | |
| Gemeinschaftsschulen bundesweit verdreifacht. Warum hat es in Sachsen so | |
| lange gedauert? Nachbar Thüringen hat schon vor zehn Jahren grünes Licht | |
| gegeben. | |
| Thüringen war in dem ganzen Prozess eine gute Orientierung. Dort hat | |
| Professor Wolfgang Melzer von der TU Dresden den Aufbau der optionalen | |
| Gemeinschaftsschulen wissenschaftlich begleitet und so ihre Einführung auch | |
| schon vor der letzten Schulgesetznovelle hier in Sachsen vorgeschlagen. Die | |
| CDU hat das damals abgewunken – und hätte es auch vielleicht dieses Mal | |
| ohne den Volksantrag und die Koalitionsverhandlungen mit SPD und Grünen. | |
| Der Erfolg liegt aber sicher in dem Versprechen, dass keine Schulform „von | |
| oben“ diktiert wird, sondern die freie Wahl „von unten“ erlaubt wird. Das | |
| ist demokratische Mitbestimmung vor Ort. | |
| Apropos Mitbestimmung. Formell gilt Ihr Volksantrag als abgelehnt. | |
| Theoretisch können Sie noch einen Volksentscheid starten, der bei Erfolg | |
| bindend wäre. Ist das eine Option? | |
| Das ist noch eine Option, ja. Der nächste Schritt zum Volksentscheid wäre | |
| das Volksbegehren, für das wir 450.000 Unterschriften bräuchten. Das ist | |
| aber schon eine immense Hürde. Schon der Volksantrag, für den wir „nur“ | |
| 40.000 Unterschriften sammeln mussten, hätte an der Bürokratie scheitern | |
| können. Man muss die Unterschriften auf speziellen Formblättern, die den | |
| gesamten Gesetzentwurf enthalten müssen, sammeln und bestätigen lassen, | |
| fortlaufend nummerieren und die Unterstützer nach Gemeinden sortieren. Der | |
| ganze Antrag kann da bereits an kleinen Formalia scheitern. Ob wir nun den | |
| nächsten Schritt gehen und ein Volksbegehren starten, werden wir am Freitag | |
| bekannt geben. | |
| Falls nein, was machen Sie dann mit Ihrer Zeit – jetzt, wo Sie Ihr Ziel | |
| erreicht haben? | |
| Wir haben entschieden, auf jeden Fall weiter Initiativen zu unterstützen, | |
| die sich in eine Gemeinschaftsschule wandeln möchten. In Leipzig hat der | |
| Stadtrat schon angekündigt, Schulneugründungen immer auf die Option | |
| Gemeinschaftsschule zu prüfen. In anderen Städten gibt es ähnliche | |
| Überlegungen. Es gibt also genügenden Spielraum, um weiter in dem Feld | |
| aktiv zu bleiben. So oder so bin ich persönlich sehr glücklich, wie weit | |
| wir es bereits geschafft haben. | |
| 22 Jul 2020 | |
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| [3] https://www.gemeinschaftsschule-in-sachsen.de/ | |
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| Ralf Pauli | |
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