# taz.de -- Neues aus der Geflügelforschung: Huhn oder nicht Huhn | |
> Während die arme Sau in aller Munde ist, rückt das Huhn uns eher geistig | |
> näher. Denn wer sind wir schon ohne das putzige Federvieh? | |
Bild: Monique hat die Welt gesehen | |
Die Hühnerforschung dringt immer mehr in die Persönlichkeit (des Huhns) – | |
dank der vielen aufs Land gezogenen Autoren, die sich ein paar Hühner | |
anschaffen, wegen der Eier, wie sie sagen. So veröffentlichten 2019 zum | |
Beispiel Jessica Jungbauer und Manuela von Perfall „Vom Glück, mit Hühnern | |
zu leben“ und Isabella Rossellini 2017 einen Bildband „Meine Hühner und | |
ich“. Natürlich wird es auch weiterhin Bücher wie „Hühner – Aufzucht �… | |
Haltung – Genetik – Vererbung“ geben. Wenn dabei das Wort „Genetik“ | |
auftaucht, weiß man, es geht um die kommerzielle Massenhaltung von Hühnern. | |
Die in Niedersachsen lebende Schriftstellerin Hilal Sezgin, die | |
gelegentlich über ihre Hühner schreibt, berichtete empört über einen | |
Hühnerschlachthof in Wietze/Celle, der 2012 trotz Protesten seinen Betrieb | |
aufnahm: „Bei Auslastung der Anlage sollen hier 134.784.000 Tiere im Jahr | |
geschlachtet werden. Das wären 2.592.000 Tiere in der Woche, 432.000 am | |
Tag, 27.000 in der Stunde.“ Um die Kette der Tötungen nicht zu | |
unterbrechen, entstanden bei Zulieferern – auch bei Bauern aus der Region – | |
400 neue Mastställe für je 40.000 Hühner. | |
Dieser Massentötungsbetrieb gehört der Rothkötter Unternehmensgruppe. Noch | |
grauenhafter ist der größte deutsche Geflügelzüchter und Anbieter von | |
Impfstoffen für Tiere „Wiesenhof“, der einer Aktiengesellschaft in Vaduz | |
gehört, die 4,5 Millionen Hühner wöchentlich schlachten lässt – unter | |
anderem von rumänischen und bulgarischen Arbeitern, [1][von denen sich in | |
einem Betrieb bei Wildeshausen 31 mit dem Coronavirus infizierten.] | |
Seit 2007 wurden dem „Wiesenhof“-Konzern von | |
Verbraucherschutzorganisationen, TV-Journalisten und Tierschützern illegale | |
Exporte von Schlachtabfällen, Subunternehmer-Sauereien, Entsorgung von | |
schwächlichen Tieren im Müll und die Beschäftigung von ausländischen | |
Arbeitskräften zu menschenverachtenden Bedingungen vorgeworfen. [2][Die | |
auswärtigen Arbeiter wurden in Massenunterkünften (bis zu 12 Betten pro | |
Zimmer) einquartiert] und unerwünschte Mitwisser offenbar massiv | |
eingeschüchtert. | |
## Kein Fleisch mehr essen | |
Ich habe mal bei einem Bauern gearbeitet, der „nur“ etwa 1.000 Hühner in | |
einem Maststall hielt, den ich ausmisten musste. Seitdem mag ich kein | |
Hühnerfleisch mehr essen. Davor hatten wir auf unserem eigenen Hof acht | |
Hühner und einen Hahn gehabt. Sie wurden nicht geschlachtet. Später hatte | |
ich noch einmal bei der „[3][Rollenden Roadshow“ der Volksbühne] mit einer | |
ähnlichen Hühnerschar zu tun. Sie waren Teil der Roadshow und hatten keine | |
anderen „Pflichten“ als rumzulaufen, gelegentlich zu gackern und ein | |
Sandbad zu nehmen. Laut dem Ornithologen Philippe Dubois und der | |
Journalistin Élise Rousseau (in: „Kleine Philosophie der Vögel“, 2019) si… | |
Hühner beim Sandbaden so zufrieden, dass sie ein „sanftes Grunzen, ja | |
beinahe ein Schnurren von sich geben“. Sie lehren uns damit „das Glück des | |
Gegenwärtigseins“. | |
Dieser Gedanke hätte meinen Eltern gefallen. Wir hatten alle möglichen | |
Tiere zu Hause, aber keine Nutztiere, die lehnten meine Eltern ab. Als | |
Künstler aus der Arbeiterklasse kommend, waren ihnen alle nützlichen | |
Tätigkeiten suspekt und speziell die ständig Eier legenden Hühner fanden | |
sie vulgär. Das hinderte meinen Vater jedoch zum Glück nicht, einmal drei | |
Hühner zu retten, die der Wiener Aktionskünstler Otto Muehl auf einer | |
Veranstaltung in Bremen vernutzen wollte, indem er ihnen auf der Bühne den | |
Hals umdrehte und ein paar nackte Statistinnen mit deren Blut besudelte. | |
Aber dazu kam es nicht, denn mein Vater klaute ihm die Hühner aus der | |
Garderobe, lud sie in seinen VW und flüchtete. Dabei war er so nervös, dass | |
er ein Verkehrsschild rammte. Die Muehlhühner kamen zu einem alten, | |
blinden Bauern, der einen Garten besaß; zur Orientierung hatte er Seile | |
gespannt. | |
Die Tierschutz-Zeiten haben sich geändert: Im Freiburger Theater verbot die | |
Intendantin einen harmlosen Auftritt von 25 Hühnern, die in Elfriede | |
Jelineks Stück „Winterreise“ mitspielen sollten. Ich weiß nicht, ob in den | |
Theaterstücken des Barock schon Hühner auftraten, aber der berühmte Jesuit | |
Athanasius Kircher [4][veranstaltete damals bereits Hypnoseexperimente] mit | |
ihnen – was so einfach ist, dass Leute wie Helmut Kohl, Al Gore und Werner | |
Herzog es Kircher mit einem Kreidestrich auf dem Boden nachgemacht haben. | |
Das ist keine Hühnerforschung, sondern ein Partygag, der deswegen gerne in | |
Hollywoodfilmen wiederholt wird. | |
In der seriösen Hühnerforschung geht es, einem Wissenschaftstrend folgend, | |
vor allem um Intelligenz-Experimente, die von den „Chickenscientists“ | |
angestellt werden, aber manchmal ist auch etwas Intelligenteres dabei. Dann | |
stehen die Hühner plötzlich als äußerst umsichtig und sozial da. Und für | |
die Presse findet sich dazu prompt eine passende Geschichte – wie die über | |
eine rotbraune Henne namens Inge, die aus Wutzen stammend an einen | |
Hühnerhalter in Görzke verkauft wurde. Von dort flüchtete sie ca. sechs | |
Kilometer zurück in ihren heimatlichen Stall in Wutzen, sie brauchte dafür | |
durch Eis und Schnee über zwei Monate. Ihr Heimfindevermögen „belohnte“ d… | |
Besitzer von Inge mit lebenslangem Bleiberecht. Das „Modell- und | |
Demonstrationsvorhaben Tierschutz“ des Bundesministeriums für Ernährung und | |
Landwirtschaft bescheinigte ihr, dass „Hennen ein gutes räumliches | |
Orientierungsvermögen haben. Hühner sind überhaupt in der Lage, schärfer | |
und viel ‚schneller‘, also ‚besser‘ zu sehen als der Mensch.“ | |
## Komplexer als man glaubt | |
Der SWR ergänzte: „Hühner symbolisierten einst Leben, Licht und | |
Fruchtbarkeit. Heute stehen sie als Massenware für ökonomischen Profit.“ | |
Wie viele amerikanische Millionäre haben als Hühnerzüchter angefangen? | |
„Doch immer mehr Privatleute holen Hühner wieder in ihren Garten. | |
Verhaltensforscher haben inzwischen herausgefunden, „dass das | |
Kommunikationsverhalten von Hühnern komplexer ist als man gemeinhin denkt“. | |
Als Faustregel gilt: Je komplexer die menschliche Wahrnehmung, desto | |
komplexer das Huhn. Und umgekehrt: Je ökonomischer (rechnerischer) die | |
Wahrnehmung, desto dümmer das Huhn. Der Wissenshistoriker Paul R. Josephson | |
hat gerade ein Buch über diese unterschiedlichen „Chicken“ veröffentlicht: | |
„A History from Farmyard to Factory“. Darin zeichnet er nach, wie aus dem | |
südostasiatischen Waldhuhn ein globalamerikanisiertes Kunstprodukt wurde, | |
dem die Betreiber der „Chicken GULags“ dank Genetik und Antibiotika eine | |
„gleichbleibend hohe Qualität“ in bezug auf Lege- oder Mastleistung | |
attestieren, wenn das Tier eine bestimmte Menge einer speziellen | |
Futtermischung und eine Mindeststundenzahl Licht erhält. | |
Man sollte meinen, die „Bio-Eier“ legenden Hühner sind etwas weniger | |
„denaturiert“. Der Journalist Stefan Kuzmany [5][interessierte sich für den | |
Zahlencode auf einem Bio-Ei,] angeblich enthalte er einen Hinweis auf seine | |
Herkunft – auf ein konkretes Huhn sogar, nennen wir es Lotte. Die Recherche | |
führte zu einer Eierfarm, die zwar auf ihrer Internetseite mitteilte, wie | |
viel Prozent ihrer Hühner im Moment gerade frei laufen, Eier legen, | |
schlafen usw., aber dies war ein Computer-Programm, das mit den Hühnern | |
auf der Farm gar nichts zu tun hatte. Außerdem befand Lotte sich, so sie | |
überhaupt existierte, auf einer ganz anderen Farm des Agrar-Konzerns. Und | |
auch die Firmen, die das „Bio“ von Lottes Eier zertifizierten, gab es nicht | |
(mehr). | |
Das Gegenteil von „Lotte“ ist „Monique“, [6][deren Geschichte der junge | |
bretonische Segler Guirec Soudée] in seinem Buch „Seefahrt mit Huhn“ (2020) | |
erzählt: Er nahm sie wegen der Eier mit an Bord und sie begleitete ihn in | |
die Arktis, wo er im Eis überwinterte und dann durch die Nordwestpassage um | |
Amerika herum zur Antarktis, sie legte wirklich oft ein Ei, wurde dafür | |
aber auch zunehmend von ihm als quasi gleichberechtigt wahrgenommen: Sie | |
war über lange Zeit seine einzige Ansprechpartnerin an Bord. Die | |
Entwicklung der Wahrnehmung bis dahin – vom eierlegenden Nutztier | |
angefangen – dauerte, befördert vor allem durch die lokalen Medien, wenn er | |
irgendwo an Land ging, die aus seinem Huhn einen „Star“ machten. „Monique | |
ist die Attraktion in den Häfen.“ Nach einigen Jahren landeten beide | |
wohlbehalten auf der kleinen bretonischen Fischerinsel Yvinec, wo Soudée zu | |
Hause ist, Monique stammt aus Teneriffa. | |
## Ein Ei für jeden | |
Kurz vor Grönland nähte er ihr einen Anorak, aber ihr reichte das Gefieder, | |
nachts schlief sie unter Deck. In der Diskobucht festgefroren, filmte er | |
mit einer Drohne und schenkte jedem im nahen Inuitdorf nacheinander ein Ei. | |
„Monique und ich verbringen weiter nördlich unser zweites gemeinsames | |
Weihnachten.“ Wenn er etwas Gutes gekocht hatte, teilt er das Essen mit | |
ihr. Als sie in seinen Heimathafen einlaufen, bemerkt er: „Monique steht | |
aufrecht an Deck.“ Er ist sehr stolz auf sie, „mein kleines Huhn, das | |
goldene Eier legt, meine großartige Mitseglerin“. Soudée ist jedoch kein | |
Hühnerforscher: „Ich glaube, ich habe gefunden, was ich suchte: mich | |
selbst.“ Kaum hatte ich seinen Bericht gelesen, wurde hier in den | |
U-Bahnhöfen schon plakatiert: „Finde Dein 2. Ich“. Es geht also immer | |
weiter (mit und ohne Hühner). | |
7 Jul 2020 | |
## LINKS | |
[1] https://www.kreiszeitung.de/lokales/oldenburg/wildeshausen-ort49926/mittels… | |
[2] https://www.nwzonline.de/wirtschaft/weser-ems/das-ist-moderner-menschenhand… | |
[3] /!1163893/ | |
[4] https://de.wikipedia.org/wiki/H%C3%BChnerhypnose | |
[5] /!231565/ | |
[6] https://www.guirecsoudee.com/ | |
## AUTOREN | |
Helmut Höge | |
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