| # taz.de -- Im Hühnerglück: Ein zweites Leben für Rupfi | |
| > Weil sie nicht mehr genug Eier legen, landen Legehennen meist beim | |
| > Schlachter. Ein Verein hat etwas dagegen und findet ein Zuhause für die | |
| > Tiere. | |
| Bild: Im neuen zu Hause muss sich Rupfi erst Mal erholen | |
| taz | Sonntag, 4.30 Uhr bei Braunschweig. Über den mistbedeckten Boden im | |
| stockfinsteren Stall von Bauer Udo Kathenhusen stapfen sechs Personen. Sie | |
| tragen blaue Overalls, Masken und rote Stirnlampen. Auf den Stangen, die | |
| den schmalen Raum der Länge nach durchziehen, sitzen 850 Hennen – darunter | |
| auch eine mit wenig Federn. Später wird sie den Namen „Rupfi“ erhalten. | |
| Noch im Dunkeln beginnt einer der Aktivisten, die wehrlosen Tiere von der | |
| Stange zu pflücken. Rasch und behutsam legt er sie in die Arme der Leute | |
| mit den Schutzanzügen, die – wenn manche der Hennen gackern und flattern – | |
| ihnen beruhigend Worte zu raunen und über die Federn streichen. | |
| Knapp 15 Monate ist Rupfis Herde alt, die bis zu diesem Morgen in Rethen | |
| gelebt hat. Es sind Hybridtiere, Name: Lohmann Brown Classic. | |
| Industrieware. Gezüchtet, um für kurze Zeit Hochleistungen zu erbringen. | |
| Sechs Eier pro Woche haben sie gelegt. Nun ist ihre produktivste Phase | |
| vorbei und normalerweise stünde die Reise zum Schlachter an, ein | |
| [1][Schicksal von Millionen Legehennen jedes Jahr in Deutschland]. Doch der | |
| Bauer hat einen anderen Plan für seine Tiere. Statt dass ihre Körper als | |
| billiges Suppenfleisch, Brühwürfel oder in einer Biogasanlage enden, sollen | |
| sie ein neues zu Hause finden. | |
| ## Ein Verein zum Hühner retten | |
| Dafür arbeitet Kathenhusen mit dem Verein [2][Rettet das Huhn] zusammen. | |
| Seit zwölf Jahren führen diese die Ausstallungen in seinem Betrieb durch. | |
| Deutschlandweit hat der 2007 gegründete Verein etwa 60 Mitglieder und | |
| vermittelt jährlich über 12.000 Tiere. Die Adoptierenden werden vorher | |
| geprüft und verpflichten sich schriftlich, die Hennen bis zu ihrem | |
| natürlichen Tod artgerecht zu halten. Das lohnt sich nicht nur fürs | |
| Tierwohl. Mit wöchentlich drei bis fünf Eiern können sie durchaus rechnen – | |
| für die Eierindustrie ist eine solche Quote aber viel zu niedrig. | |
| Draußen im hellen Scheinwerferlicht wartet ein Halbkreis aus mehreren | |
| Dreierteams. Zwei begutachten Augen und Klauen der Tiere, tasten den | |
| Unterleib ab und inspizieren die Kloake. Erscheint ihnen ein Tier gesund, | |
| öffnet die dritte Person den weißen Gitterkasten, in den sie zuvor eine | |
| Schippe mit Futter gestreut hat und klickt auf ihr Handzählgerät. Sobald | |
| zehn Tiere beisammen sind, ruft sie: „Box voll!“ Dann eilen zwei Männer | |
| herbei und schleppen die Kiste zu einem der sieben bereitstehenden | |
| Transporter. | |
| 40 Helfer:innen sind an diesem Morgen in Rethen. Dass alle schon im | |
| Vorfeld ihre Aufgaben kennen, dafür hat Stefanie Laab gesorgt. Sie leitet | |
| den Verein und findet für die Tiere ein neues Zuhause. „Die Hühner gelten | |
| als Abfall, und wir können sie nach der Nutzung retten, ohne damit die | |
| Tierindustrie zu unterstützen“, sagt sie. | |
| Den globalen Markt für Legehennen beherrschen heute Zuchtkonzerne wie die | |
| Erich Wesjohann Gruppe. Durch ihre Zuchtweise können die Hybridtiere nur in | |
| einer Generation Hochleistungen erbringen, kein Bauer kann sie selbst | |
| vermehren. Auch in den meisten Biobetrieben kommen solche Hennen zum | |
| Einsatz. | |
| Was Stefanie Laab noch antreibt? „Es ist berührend zu sehen, wie die Hühner | |
| das Leben kennenlernen. Und es ist befreiend und stärkend, dass man selbst | |
| etwas tun kann.“ | |
| ## Manche brauchen extra Pflege | |
| Längst [3][nicht allen Hühnern aus Kathenhusens Stall geht es gut]. Mal | |
| steht der Hals schief, mal ist der Bauch steinhart oder ein Auge suppt. | |
| Dann erschallt der Ruf „Pflegi“ über den Hof und jemand bringt die | |
| braungefiederte Patientin in die Scheune. Dort hat Julia Helmers einen | |
| Tisch aufgebaut, auf dem Verbandsmaterial, Salben und aufgezogene Spritzen | |
| bereitliegen. | |
| „Was ist denn mit dir los“, spricht sie das Huhn an, das fast regungslos | |
| vor ihr hockt. Immer wieder knickt das Bein des Tiers ein. Helmers | |
| engagiert sich seit zehn Jahren bei Rettet das Huhn. Die 45-Jährige kann | |
| Knochenbrüche erspüren, erkennt Kurzatmigkeit und Ballenkrankheiten. Auch | |
| weiß sie, dass bestimmte Augenentzündungen für Geflügel extrem schmerzhaft | |
| sind und eine Schichtei-Diagnose – eine Entzündung des Legedarms – ohne | |
| eine Operation tödlich endet. | |
| Die nächste Patientin kommt ins „Wartezimmer“ der Scheune. Es ist die | |
| Henne, die später Rupfi heißen wird. Am Hals und Rücken ist sie fast kahl, | |
| am Flügel stechen die abgebrochenen Federkiele aus ihrer Haut. Offenbar ist | |
| sie in den vergangenen Wochen vielfach von ihren Artgenossinnen gepiesackt | |
| worden, diagnostiziert Helmers wenig später. Doch sonst scheint ihr nichts | |
| zu fehlen. So wird sie vorgemerkt für eine neue, besonders engagierte | |
| Abnehmerin. Tiere mit größeren Problemen brauchen dagegen die Pflege von | |
| erfahrenen Halter:innen. | |
| Zwei Tiere müssen noch am selben Tag zum Tierarzt, hat Julia Helmers | |
| entschieden. Ein Anruf genügt, um das zu organisieren. Auch die Pflegefälle | |
| sind nach kurzer Absprache untergebracht; für manche steht in den nächsten | |
| Tagen eine Operation an. Rupfi hat eine Einzelbox bekommen und wird nach | |
| Berlin reisen. Derweil schaltet Bauer Udo Kathenhusen das Licht im Stall | |
| an, um für die nächste Herde sauberzumachen. Die Luft ist staubig, der | |
| Mistgeruch intensiv, aber Kathenhusen hat gute Laune. „Dass nach zwei | |
| Stunden alle Hühner draußen sind, ist für mich das Wichtigste“, sagt der | |
| 56-Jährige. | |
| ## Mehr als nur Nutztiere | |
| Für ihn lohnt sich die Zusammenarbeit mit dem Verein. Zwar bekommt er nun | |
| kein Geld vom Schlachter für die Tiere, doch der Abtransport durch einen | |
| Dienstleister würde den mickrigen Erlös sowieso kaum aufwiegen. „In manchen | |
| Fällen musste ich sogar noch Geld draufzahlen“, berichtet der Mann mit dem | |
| Basecap. Und dann hätten die Transportarbeiter die Hühner auch einfach an | |
| Beinen und Flügeln gepackt und in Kartons geworfen. „Das war auch für mich | |
| ein Scheißgefühl.“ | |
| Durch die Zusammenarbeit mit der Initiative sei er selbst gewachsen, sagt | |
| Kathenhusen. Wie sie mit Tieren umginge und dass sie sogar Geld für OPs | |
| ausgebe – das sei für Bauern, die Hennen als reine Nutztiere sehen, | |
| natürlich eine verrückte Perspektive, die bei seinem Berufsstand auf wenig | |
| Verständnis stoße. Doch er selbst freut sich, dass seine Hühner nun ein | |
| zweites Leben als Haustier genießen können. | |
| Als es dämmert, ist die konzentrierte Geschäftigkeit Heiterkeit oder | |
| fröstelnder Müdigkeit gewichen. Viele hatten eine weite Anreise und haben | |
| die Nacht durchgemacht, um pünktlich um vier Uhr morgens anzukommen und | |
| Lampen aufzuhängen, Boxen bereitzustellen und die Schilder an die Türen der | |
| Transporter zu hängen, wie viele Tiere hier später eingeladen werden | |
| sollen. Aber noch sind die Tiere nicht bei ihren [4][neuen | |
| Besitzer:innen], die in ganz Deutschland leben. | |
| Benjamin Pfab hat die Tour nach Berlin übernommen. Er selbst hat sich zum | |
| ersten Mal Hühner während Corona angeschafft. Sie haben sein Leben | |
| verändert. Durch die Beschäftigung mit Massentierhaltung ist er zum Veganer | |
| geworden; eine Ausnahme macht er nur, wenn seine Hühner ihm Eier schenken. | |
| Die Lohmann Brown Classics leben durchschnittlich noch zwei Jahre, schätzt | |
| er – deutlich kürzer als alte Haustierrassen. Vier Hennen will Pfab nachher | |
| mit nach Hause nehmen, sie sollen seinem ängstlichsten Huhn zu Hause gute | |
| Gesellschaft leisten. | |
| Pfab hält auf einem Parkplatz in der Nähe der Berliner Autobahn. Mit | |
| Körbchen, Kästen und Kisten warten dort schon die Abnehmer:innen, unter | |
| ihnen auch Katja Marx. Aufgeregt nimmt sie ihre drei Hennen in Empfang. Sie | |
| selbst als Krankenschwester sei doch prädestiniert für diese Hühner, hat | |
| die beim Verein engagierte Freundin bei der Übergabe gesagt. Zwei Hühner | |
| tragen grüne Fußverbände, das dritte ist die von ihren Artgenossinnen | |
| schwer zugerichtete Henne. Noch im Auto gibt Marx ihr dann eben den Namen | |
| Rupfi. | |
| In ihrem Garten hat Marx ein Holzhäuschen im skandinavischen Stil gebaut | |
| und einen gut gesicherten Auslauf. Zunächst bringt sie die bei den | |
| fußkranken Hennen in ihr neues Zuhause, dann Rupfi. Voller Sorge beobachtet | |
| die 46-Jährige, ob die anderen sie angreifen. Rupfi schaut sich neugierig | |
| um, hüpft dann aus ihrer Kiste und beginnt das neue Zuhause zu inspizieren | |
| – genau wie ihre zwei alten Stallgefährtinnen. Als Marx ihnen getrocknete | |
| Mehlwürmer hinhält, ist Rupfi die Schnellste. | |
| Drei Monate später ist ihr Federkleid nachgewachsen. Die Henne war | |
| zwischendurch noch beim Tierarzt, musste gefüttert werden und hat viel Zeit | |
| unter einer Wärmelampe verbracht. Aber [5][jetzt geht es Rupfi gut]. Sie | |
| sei zahmer als die anderen, beobachtet Marx, die gerne bei den Tieren | |
| sitzt. „Sie erden mich.“ | |
| 25 Dec 2025 | |
| ## LINKS | |
| [1] https://www.destatis.de/DE/Presse/Pressemitteilungen/2025/11/PD25_N062_41.h… | |
| [2] https://www.rettet-das-huhn.de/ | |
| [3] /Konsum-von-Gefluegelfleisch/!6079534 | |
| [4] /Zwei-Staedter-und-die-Huehnerhaltung/!6108865 | |
| [5] /Emotionen-von-Tieren/!5982672 | |
| ## AUTOREN | |
| Annette Jensen | |
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