| # taz.de -- Der Hausbesuch: Eine Urliebe für die Freiheit | |
| > Salua Nour will, dass Entwicklungsgelder bei den Menschen landen. Die | |
| > ägyptische Berlinerin lebte lange in der Demokratischen Republik Kongo. | |
| Bild: Salua Nour kam nach Deutschland für das Studium. Noch heute arbeitet sie… | |
| Afrika und Europa, Fernweh und Heimweh, Kairo, die Mark Brandenburg, | |
| Fontane und Ausbruch aus dem Patriarchat – mühelos bringt Salua Nour alles | |
| in Einklang. | |
| Draußen: Eine Straße in Charlottenburg mit Geschäften, wo es schöne Dinge | |
| zu kaufen gibt. Das Ambiente ist gesitteter als in etlichen anderen | |
| Berliner Bezirken. Als achteten die Leute hier mehr aufeinander – wie der | |
| Bäcker von nebenan, der orientalische Köstlichkeiten backt, seine „Madame | |
| Nour“ grüßt, ihr auch Hilfe anbietet. | |
| Drinnen: Salua Nour ist vor Kurzem eingezogen. Die Wohnung wirkt kühl, | |
| einige Umzugskartons sind noch nicht ausgepackt, kein Bild hängt an der | |
| Wand. In früheren Wohnungen hingen auch keine Bilder, sagt sie. Nichts soll | |
| sie ablenken. Blumen gibt es, wenn überhaupt, nur aus Plastik. „Ich habe zu | |
| viel zu tun, mit Menschen, mit Dingen“, sagt sie. Blumen seien wie eine | |
| weitere Herausforderung. „Dann muss ich schneiden, Wasser wechseln, dann | |
| stinkt es. An Blumen ergötze ich mich in der Natur.“ | |
| Natur: Wann immer Zeit ist, packt Salua Nour ihren Rucksack und wandert im | |
| Berliner Umland. Dieses Brandenburg, sagt sie, sei ihre | |
| „Herzenslandschaft“. Der 66-Seen-Weg habe es ihr angetan. Auch im Lockdown | |
| während Corona ist sie rausgefahren. Aber warum Brandenburg? Das liege an | |
| Fontane, sagt sie. Nour war in Ägypten auf einer deutschen Schule. Als | |
| Teenager las sie Fontanes Bücher. „Der Himmel über Brandenburg, das | |
| fixierte sich in meinem Kopf.“ Man müsse bedenken: „Ich las das in Kairo | |
| bei 46 Grad.“ Ihre Liebe zu Brandenburg könne sie aber nicht erklären. | |
| Warum nicht? „Weil man Liebe nicht erklären kann. Für mich ist es die | |
| schönste Landschaft der Welt.“ | |
| Das deutsche Gymnasium: Ihre Eltern gehörten zur ägyptischen Oberschicht. | |
| Neben Arabisch wurde zu Hause Englisch und Französisch gesprochen. Ihre | |
| Mutter habe sich mal mit dem Zahnarzt über die beste Schulbildung | |
| unterhalten, sagt sie. Soll die Tochter auf eine französische oder eine | |
| englische Schule gehen, habe die Mutter ihn gefragt. „Auf eine deutsche“, | |
| riet der Zahnarzt. Da lerne sie noch eine weitere Sprache. So kam es, dass | |
| Salua Nour bei den Schwestern des Heiligen Karl Borromäus in Kairo | |
| eingeschult wurde und später an der evangelischen Oberschule, dem größten | |
| deutschen Bildungsinstitut in Ägypten, Abitur machte. | |
| Die Mutter: Die Mutter wollte, dass Salua Nour nach dem Abitur ins Ausland | |
| geht. Sie hatte noch erlebt, dass Mädchen mit 15, 16 „aus dem Verkehr | |
| gezogen werden“ – das war damals so. Das Mantra der reisefreudigen Mutter, | |
| die für ihre Tochter erhoffte, was ihr verwehrt war, lautete deshalb: „Du | |
| musst hier weg.“ Allerdings starb die Mutter, als Salua 12 Jahre alt war. | |
| Ihr letzter Wunsch: Diese Tochter muss in Deutschland studieren. | |
| Ein anderer Ton: Ihr Vater, ein Juraprofessor, war traditionell | |
| eingestellt, er kam aus einer Familie mit elf Kindern. Dort herrschte ein | |
| anderer Ton: Ein Mädchen ins Ausland schicken? „Kommt nicht infrage.“ Zwei | |
| Jahre habe es einen Kampf in der Familie gegeben; am Ende habe man den | |
| Wunsch der Mutter doch respektiert. | |
| Marburg: Nach dem Abitur 1962 also verließ Salua Nour Ägypten und ging nach | |
| Marburg zum Politikstudium. Bald wechselte sie nach Westberlin. Sehr | |
| zielstrebig, sehr klar sei sie gewesen, sagt sie. Mit den | |
| Studentenprotesten der 68er-Generation habe sie sympathisiert, aber ihr | |
| Ziel nicht aus den Augen verloren. „Die Urliebe für Freiheit habe ich nicht | |
| verspielt“, sagt sie. Auch dass sie keine Kinder bekommen hat, die sie auf | |
| Rollen fixiert und ihre Freiheit beschnitten hätten, spielt da mit rein: | |
| „Ich habe der Natur ein Schnippchen geschlagen.“ 1971 jedenfalls war sie | |
| fertig mit Studieren und hatte einen Doktortitel. | |
| Nach dem Rigorosum: Die Doktorarbeit war das Äußerste, was der Vater | |
| akzeptieren konnte als Grund für ihren Aufenthalt im Ausland. Nach dem | |
| Rigorosum kommst du zurück, habe er gesagt, erzählt sie. „Ich hätte nicht | |
| gewagt, es nicht zu tun.“ Aber dann starb der Vater drei Tage nach ihrem | |
| Rigorosum, und sie blieb. | |
| An der Uni: Nahtlos bekam sie eine Forschungsassistenz am | |
| Otto-Suhr-Institut für Politikwissenschaft der Freien Universität Berlin | |
| und ein Habilitationsstipendium. Ihr Schwerpunkt: internationale | |
| Beziehungen. Ihr Herzensthema aber: Afrika und wie man es anstellen muss, | |
| damit innovative Ansätze in der Entwicklungshilfe zum Tragen kommen. „Man | |
| muss sich doch fragen, warum Entwicklungshilfestrategien seit den fünfziger | |
| Jahren keine großen Ergebnisse zeitigen“, sagt sie. 1984 wurde sie | |
| habilitiert. „Ich wollte immer eine deutsche Professorin sein. Über Umwege | |
| bin ich es geworden.“ Umwege, weil sie viele der folgenden Jahre mit | |
| Entwicklungshilfeorganisationen in afrikanischen Ländern verbrachte. Am | |
| längsten blieb sie in der Demokratischen Republik Kongo. War sie in | |
| Deutschland, lehrte sie wieder an der Uni. Bis heute gibt Nour Seminare als | |
| Privatdozentin. „Ich will etwas zurückgeben.“ | |
| Die Dozentin: Dass Salua Nour durch und durch Lehrerin ist, wird klar, als | |
| sie ihre Sicht auf die Fehler in der Entwicklungshilfe deutlich macht, mit | |
| einem Schaubild, hingekritzelt auf ein Blatt Papier. Darauf zwei Türme, je | |
| bestehend aus drei Teilen: Politik, Wirtschaft, Gesellschaft. Links der | |
| Turm für die Industrieländer, rechts der Turm für afrikanische Länder. Mit | |
| Pfeilen zeigt sie, welcher Teil wie in Verbindung steht. Rechts unten, bei | |
| der Gesellschaft in afrikanischen Ländern kommt so gut wie kein Pfeil an. | |
| Die Erklärung: „In Industrieländern trägt eine funktionierende Wirtschaft | |
| das politische System“, sagt sie. Es werden Ressourcen geschaffen wie | |
| Arbeitsplätze, Einkommen und ein Binnenmarkt für Konsum. Steuereinnahmen | |
| werden generiert, mit denen die Politik die Gesellschaft gestaltend leiten | |
| kann. Umgekehrt kann die Bevölkerung durch Organisationen in die Politik | |
| eingreifen. In vielen Ländern des globalen Südens aber könne die Wirtschaft | |
| diese Position nicht einnehmen, sagt sie. Wenn 90 Prozent der Bevölkerung | |
| im informellen Sektor arbeiten und die politische Klasse im Dienst von | |
| externen Kräften steht, „meist globalen Unternehmen, die die Region | |
| erbarmungslos ausbeuten“, seien keine Ressourcen da, damit ein Gegengewicht | |
| zu Wirtschaft und Politik durch die Bevölkerung entstehen könne. „Ich will | |
| das begreiflich machen. Das ist mir ein Herzensanliegen.“ | |
| Ihre Forderung: Wenn Entwicklungszusammenarbeit, dann will sie nur solche, | |
| die dazu beiträgt, dass der am Boden liegende Produktionsapparat und | |
| private Sektor in Ländern des globalen Südens wieder aufgebaut werden, | |
| „zusammen mit Akteuren dieses Sektors“. Das ziehe Konflikte mit Vertretern | |
| internationaler Interessen und lokalen Politikern nach sich, vor denen man | |
| sich nicht scheuen dürfe. Salua Nour ist diese Gratwanderung gegangen. Sie | |
| war mit der Friedrich-Naumann-Stiftung in Benin, war mit der Gesellschaft | |
| für Internationale Zusammenarbeit in der Demokratischen Republik Kongo | |
| sowie in Sierra Leone und hat genau das gemacht: Sie hat Unternehmen, | |
| Kooperativen, Manufakturen, Verbände zusammen mit den Menschen dort | |
| aufgebaut. | |
| Kongo: 16 Jahre war sie in dem Land. Dort war sie die „Mama Nour“ der | |
| Straßenkinder und die „Madame Nour“ für alle anderen. „Die menschlichen | |
| Beziehungen, das sind Liebesbeziehungen.“ Sie hat den Leuten gezeigt, wie | |
| sie sich selbst ermächtigen können. „Dieser Kampf ist eine Spitze gegen | |
| Machthaber“, sagt sie. Aber man müsse strategisch sein. „Der Kampf darf | |
| sich nicht in Aktivismus und sinnloser Konfrontation verbrauchen.“ | |
| Was sie verkörperte: Sie war Entwicklungshelferin einer deutschen | |
| Organisation, als Frau in ihrer Position eine Ausnahme. „Aber niemand hat | |
| geguckt, ob ich eine Frau oder ein Mann bin. Die Leute waren angesprochen | |
| von dem, was ich mit ihnen auf die Beine gestellt habe.“ Auch die Hautfarbe | |
| habe keine Rolle gespielt: „Ich war eine Ägypterin. Die haben geschnallt, | |
| dass ich keine Europäerin bin.“ | |
| Glück: Die schönste Zeit in ihrem Leben sei die im Kongo gewesen, sagt sie. | |
| Weil sie Entwicklungen bewirkte, die Menschen glücklich machten. Sie liebte | |
| ihre Aufgabe, sie liebte die Menschen. Nour sagt: „Arbeit mit Menschen kann | |
| nur etwas Positives zeitigen, wenn Liebe dabei ist.“ | |
| 7 Jul 2020 | |
| ## AUTOREN | |
| Elisabeth Meyer-Renschhausen | |
| Waltraud Schwab | |
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