# taz.de -- Die Wahrheit: Tragisches Nichts | |
> Tagebuch einer Kriseologin: Unlauter wegschwurbeln – indem man das | |
> Merkmal des schuldlos Schuldigwerdens der griechischen Tragödie | |
> drüberstülpt. | |
Mit Erleichterung nahm die Nation vor zwei Wochen die frohe Botschaft zur | |
Kenntnis, dass deutsche Urlauber, weil wir so gut durch „die Krise“ | |
gekommen sind, in einem Pilotprojekt wieder balearische Strände verheeren | |
dürfen. „Thanks for nothing, Boris!“, fluchen derweil die Malle-Loser | |
jenseits des Ärmelkanals. | |
Dear Brits, don’t mention the Liegestuhl-War, lasst euch wie neulich in der | |
„Tagesschau“ von den diesmal nicht im Suff, sondern zwischen Euphorie und | |
Enttäuschung schwankenden Ballermännern trösten: „Na ja, das Eimertrinken | |
mit mehreren Mann, das fällt wohl aus, aber wir machen das Beste draus!“ | |
Man darf gespannt sein, was nach dem tragischen Verlust ihres | |
liebgewordenen Rituals „das Beste“ ist. | |
Womit ich beim immer häufiger strapazierten Wort „tragisch“ wäre. In | |
letzter Zeit werden die Coronakrise, das Sterben infizierter Menschen, der | |
Einbruch der Wirtschaft und die tödliche Gewalt amerikanischer Polizisten | |
gegen schwarze Bürger allesamt gern als „tragisch“ bezeichnet. Aus meinem | |
langjährigen Leben in den USA habe ich ein paar Dinge behalten, so zum | |
Beispiel ein vor sich hin schlafendes Girokonto. | |
Vor ein paar Tagen bekam ich eine Mail von Mike Corbat, dem CEO der | |
Citibank, der mir versicherte, man tue in seinen Filialen alles für meine | |
und die Sicherheit der Angestellten und dass „… der tragische und unnötige | |
Tod von George Floyd und die daraus resultierenden Unruhen eine nicht zu | |
übersehende Mahnung sind, welch weiten Weg wir noch gehen müssen, um zu | |
einer wirklich gleichberechtigten und gerechten Gesellschaft zu kommen“. | |
Schon interessant, wie man die vorsätzliche Tötung eines Menschen | |
sprachlich wegschwurbeln kann, indem man das Merkmal des schuldlos | |
Schuldigwerdens der griechischen Tragödie drüberstülpt. Solche | |
Ranschmeiß-Mails sind ungefähr so glaubwürdig wie der plötzlich bei | |
Konzernen sehr beliebte Werbeboykott von Facebook. Erstaunlich, wie lange | |
es dauern kann, bis Firmenchefs nach Jahren mit einem Mal gesellschaftliche | |
Verantwortung entdecken und sich mit Getöse gegen Hass im Netz stellen. Und | |
alle, alle möchten unbedingt dabei sein! | |
Der langjährige Chefredakteur des Food Magazins Bon Appétit, Adam Rapoport, | |
hat mir übrigens auch geschrieben. Er beichtete, er sei zurückgetreten, „um | |
über die Arbeit nachzudenken, die ich als Mensch leisten muss“. Der Grund | |
seines Rücktritts lag unter anderem in einer Halloween-Kostümierung als | |
blingbehangener Gangsta-Puertoricaner – aber vor allem in den Beschwerden | |
seiner nichtweißen Mitarbeiter, deren Rapoports Meinung nach zu würzige | |
Rezepte ständig einem All-American-Mainstream-Geschmack angepasst wurden. | |
An alle CEOs, die ihr zur Zeit über „tragische“ Ereignisse oder eure | |
„Arbeit als Mensch“ sinniert: Verschont mich bitte mit Mails, aber geht | |
gern in euch, zum Beispiel in einem Kloster. Ganz undramatisch. | |
2 Jul 2020 | |
## AUTOREN | |
Pia Frankenberg | |
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