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# taz.de -- Die Wahrheit: Exponentiell was?
> Tagebuch einer Rechenniete: Die Coronakrise belastet Zahlenblinde weit
> über ihre mathematischen Fähigkeiten.
Als seit Langem geoutete Matheniete gehe ich gerade durch harte Zeiten. Ich
bin in meiner eigenen Idiotenquarantäne. Wie soll man denn bei all den auf
WhatsApp und sonstigen Kanälen geführten Fachgesprächen zum „exponentiellen
Anstieg“ von Viren mithalten, wenn man schon an einfacher Prozentrechnung
scheitert?
Antworten gibt Wikipedia, zum Beispiel mit einer eindrucksvollen Formel,
leider kann ich sie hier nicht wiedergeben, da meine Tastatur die
notwendigen Zeichen verweigert. Die wurde wahrscheinlich von einem Bruder
im Geiste designt, der genau wie ich schon in der Schule davon überzeugt
war, dass man diesen Quatsch ja später nie wieder braucht. Ha!
„Exponentielles Wachstum beschreibt ein mathematisches Modell für einen
Wachstumsprozess, bei dem sich die Bestandsgröße in jeweils gleichen
Zeitschritten immer um denselben Faktor verändert.“ So ein Satz reicht aus,
um in meinem Kopf massive Turbulenzen hervorzurufen und die Lieferketten in
meinem Gehirn komplett zum Erliegen zu bringen.
Üblicherweise orientiere ich mich an Bestandsgrößen wie dem Vorrat in
meinem Weinregal, der aber leider nicht wie die Virenkurve ansteigt,
sondern mal in Schüben, mal sanft und stetig weniger wird. Aber zum Glück
gibt es im Netz ja noch die bunt bewegten Grafiken der Washington Post, die
exponentielles Wissen leicht vermitteln. Munter tummeln sich blaue Punkte
in einem Bällebad, dann kommt ein roter Rüpel dazu und rempelt
autoscootermäßig rum, bis alle in Windeseile fieberrot sind. Da checken
sogar Leute wie ich, was exponentielles Wachstum ist.
Man ahnt ja gar nicht, was sich alles, wenn man das System erst mal kapiert
hat, unter gewissen Umständen exponentiell vermehrt! An erster Stelle steht
leider Hundescheiße. In meiner Gegend beobachte ich einen Haufenanstieg,
der parallel zu der exponentiell ansteigenden Viruskurve verläuft. Entweder
haben sich alle noch schnell einen Hund besorgt, um den
Ausgehbeschränkungen ein Schnippchen zu schlagen, oder die armen Köter
kacken wie verrückt, weil die riesigen Klopapiervorräte zu Hause die
Verdauung anregen. Natürlich ist auch eine exponentielle Steigerung des
Gleichgültigkeitsfaktors ihrer Halter möglich, aber ich glaube weiter fest
an das Gute im Menschen.
Die Bestandsgröße an Floskeln ist ebenfalls exponentiell gewaltig
angeschwollen. Im Radio hörte ich einem Experten zu, der in einem einzigen
Redebeitrag etwa fünfzigmal „Sag ich mal“ zu dem sagte, was er eben gerade
gesagt hatte. „Bitte sag es nicht!“, wollte ich ihm zurufen, nicht nur
„mal“, sondern gar nicht, aber er hörte nicht, und jedes „Sag ich mal“
färbte ein anderes Wort rot, und am Ende war die „Sag ich mal“-Kurve so
steil, dass wir für die nächsten zehn Jahre in einer Sprachrezession
landen. Und das überlebe ich nicht, ob mit oder ohne Formel.
26 Mar 2020
## AUTOREN
Pia Frankenberg
## TAGS
Schwerpunkt Coronavirus
Mathematik
Schwerpunkt Polizeigewalt und Rassismus
Sprachkritik
Schwerpunkt Coronavirus
Berlin
W. C. Fields
Brille
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