# taz.de -- Die Wahrheit: Obststörung am Straßenrand | |
> Tagebuch einer Verkehrsrentnerin: Aus dem städtischen Nahkampf nimmt man | |
> außer schlechter Stimmung nur wenig mit nach Hause. | |
Schauplatz Berlin-Charlottenburg. Ein Auto blockiert in der Einmündung der | |
Niebuhr- zur Wilmersdorfer Straße den Fußgängerüberweg. Drin sitzt | |
seelenruhig essend eine junge Frau. Eine wacklige ältere Dame am Rollator | |
sucht erfolglos eine Lücke und gestikuliert, Madame möge doch bitte ihren | |
Wagen da wegbewegen, was diese mit Nichtbeachtung quittiert. Eine andere | |
Frau quält ihren Kinderwagen am Heck des Wagens vorbei, während ein | |
hilfreicher Passant ihr den Verkehr auf der Wilmersdorfer vom Leib hält. | |
Früher hatte man noch in Übergangsmäntel und Pepitahütchen gekleidete | |
Bluthochdruck-Rentner, die mit ihren Gehstöcken auf Motorhauben droschen, | |
wenn sie ihnen zu nah kamen, aber inzwischen muss man ja alles selber | |
machen. In Ermangelung von Hilfsmitteln beschränke ich mich auf Klopfen | |
gegen das Seitenfenster, was die Dame nach anfänglich gelungener Taktik, | |
die Welt da draußen zu ignorieren, auf hundertachtzig bringt. Schon die | |
Zweite, die sie bei der Nahrungsaufnahme stört! | |
Die Wagentür wird aufgerissen, Madame hebt sich vom Sitz, in der Hand ein | |
Plastikschälchen aus dem nahen Biomarkt. „Entschuldigen Sie bitte, wenn ich | |
hier mein Obst esse!“, quakt sie in genervtem „Ich erkläre es Ihnen jetzt | |
nochmal ganz langsam“-Ton. | |
Ihre Erregung ist verständlich, Passanten sind ja generell eine | |
Belästigung. „Entschuldigen Sie bitte, aber möchten Sie vielleicht | |
weiterfahren, bevor Ihr Obst aus Versehen runterfällt?“, lächele ich | |
sardonisch wie Robert de Niro kurz vor seinem nächsten Mafiamord. Außer | |
dass sie türenknallend zurück ins Auto sinkt, geschieht selbstverständlich | |
nichts. | |
Traffic is a losing game im städtischen Nahkampf, und außer gerechtem Zorn | |
über sozial inkompatible Egozentriker und Hadern mit der eigenen | |
Machtlosigkeit nimmt man aus solchen Begegnungen nix mit nach Hause. | |
Allenfalls die Erkenntnis, dass es Leute gibt, die mit Obstsalat ein | |
Argument zu besitzen glauben, den doofen Mitbürgern da draußen ihre Regeln | |
aufzudrücken. Ich mach hier wohlverdiente Pause und ernähre mich gesund, du | |
Gehhilfen-Oma! Was willstu? | |
In solchen Augenblicken überfallen mich romantische Fantasien vom Leben auf | |
dem Dorf, wo jeder jeden kennt, alle sich nett ums Gemeinwohl kümmern und | |
man im Bedarfsfall sagen kann: „He du, ich weiß, wo dein Auto wohnt!“ Aber | |
blöderweise bin ich gegen Selbstjustiz, und die Erinnerung an die eigene | |
Dorfjugend, wo nicht mal das Beichtgeheimnis beim Pastor sicher war, lebt | |
auch noch. So ist das mit der sozialen Kontrolle, man wünscht sich, dass | |
sie funktioniert, aber wer mal unter ihr gelebt hat, weiß auch, wie sich | |
das anfühlen kann. | |
Auf dem Heimweg ersinne ich brillante Repliken für kommende Gelegenheiten, | |
und zu Hause gönne ich mir die „Pretzel Fight Scene“ aus der | |
Adam-Sandler-Komödie „Leg dich nicht mit Zohan an“. Gibt es auf YouTube, | |
lindert Ohnmachtsgefühle im Straßenverkehr. | |
27 Feb 2020 | |
## AUTOREN | |
Pia Frankenberg | |
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