# taz.de -- Die Wahrheit: Blutige Rüben | |
> Tagebuch einer Gleitsichtigen: Wenn bloß noch deformierte Gestalten durch | |
> das Sichtfeld schwappen, ist der Frühherbst des Sehvermögens angebrochen. | |
Als Kind sah ich mal den Film „Wie angelt man sich einen Millionär?“, in | |
dem Lauren Bacall, Betty Grable und Marilyn Monroe drei Fotomodelle | |
spielen, die beschließen, Millionäre zu heiraten. Ich wollte unbedingt | |
sofort so cool und elegant werden wie Lauren Bacall, doch das Schicksal | |
hatte anderes mit mir vor und programmierte mich mit einem hervorstechenden | |
Merkmal der von Marilyn verkörperten Rolle, einer beachtlichen | |
Fehlsichtigkeit. Für ihre übrigen körperlichen Eigenschaften fand es zu | |
meinem Bedauern bei mir keine Verwendung. | |
Aus Angst, die Millionäre zu verschrecken, verzichtete Marilyns Figur auf | |
ihre Brille. Als Folge hielt sie Bücher, in denen sie vorgeblich las, | |
falsch herum, was im Film erheiternd, im wahren Leben aber nicht zur | |
Nachahmung empfohlen ist. Spätestens als ich auf einer Party sanft darauf | |
hingewiesen wurde, es sei wirklich nicht nötig, mich bei den von mir | |
angerempelten Möbeln zu entschuldigen, dämmerte mir der Grund für meine in | |
letzter Zeit gehäuft auftretenden blauen Flecke. Ich gab mich schließlich | |
geschlagen und ging zum Augenarzt, der mich mit einem Rezept für eine | |
stärkere Gleitsichtbrille zum Optiker schickte. | |
An dieser Stelle möchte ich einen dringenden Appell an die Öffentlichkeit | |
richten: Bitte weichen Sie nicht aus, wenn eine fremde weibliche Person, | |
die sich im Frühherbst ihres Lebens befindet, mit starrem, durch sehr dicke | |
Brillengläser gerichteten Blick auf Sie zu taumelt und Sie grüßt. Ich bin | |
weder verwirrt noch betrunken, vielmehr kämpfe ich mit den vermaledeiten | |
Verzerrungen am Sichtfeldrand, von denen jeder Gleitsichtbrillenträger ein | |
Klagelied singen kann. Stellen Sie sich einen Gang durch Ihre Nachbarschaft | |
vor wie eine Bootsfahrt bei Windstärke zwölf auf hoher See: Ob die | |
deformierten Gestalten, die Ihnen entgegenschwappen, Ihr Apotheker, der | |
Spätibetreiber von nebenan oder völlig Unbekannte sind, können Sie nur | |
raten. Am besten grüßen Sie mich also, falls Sie mir begegnen, einfach | |
freundlich zurück. | |
Neulich in der U-Bahn las ein Mann in einem Buch über irgendwas mit | |
Hirnforschung. Ich konnte den Titel aber nur entziffern, weil weder er noch | |
ich noch das Buch sich bewegten. Vielleicht kann mir ja ein Hirnforscher | |
beantworten, weshalb mein eigenes Hirn aus einem Rezept für „Buttriges | |
Steckrübengratin“ unbedingt ein blutiges machen möchte, oder warum Karstadt | |
mir erst zehn Prozent Rabatt auf „religiöse Artikel vieler toller Marken“ | |
verspricht, nur um mir nach vergeblicher Suche mitzuteilen, den gebe es nur | |
für „reguläre“. | |
Hirnforscher, ich frage Sie: Liegt es an der Brille? An meinen Synapsen? An | |
Karstadt? Sollte ich Sie mal auf der Straße anrempeln, freue ich mich auf | |
Ihre Antwort. Danke. Inzwischen trainiere ich für meinen Neujahrsvorsatz, | |
nämlich die Teilnahme am alljährlichen Berliner Fußbad-Pokal in der Spree. | |
Auf dem Sofa, ohne Brille und im Sitzen. | |
2 Jan 2020 | |
## AUTOREN | |
Pia Frankenberg | |
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