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# taz.de -- Volksabstimmung in Russland endet: Putin in neuer Verfassung
> 20 Jahre an der Macht sind nicht genug: Wie sich Russlands Präsident
> Wladimir Putin durch ein Referendum die Basis für lebenslanges Regieren
> sichert.
Bild: Wählen auf der Datsche: Mit mobilen Wahlbüros erreicht das Referendum a…
Anastasia ist Erstwählerin. Gerade erst feierte die Studentin ihren 18.
Geburtstag. Im Wahlbüro in der Ordschonikidse Straße im Süden des Moskauer
Zentrums fällt die junge Frau auf.
Sie sei ein Unikum, lacht dort Wahlleiter Viktor Katkow. So junge
Wählerinnen verliefen sich nur selten zu ihm, meint er. An diesem Tag war
sie bisher die einzige unter 20 Jahren. Ihre Mutter hatte die Studentin mit
zur Abstimmung genommen.
Die Kommunistische Partei hat den Rentner für diese „gesellschaftliche“
Aufgabe abgeordnet. Katkow nimmt den Auftrag sehr ernst. Verfassungen
müssten immer wieder der Wirklichkeit angepasst werden, sagt er. Die
Amerikaner rühmten sich zwar, ihr Grundgesetz fast 200 Jahre lang nicht
verändert zu haben. Doch sei das wirklich sinnvoll, resümiert der ehemalige
Ingenieur für Energietechnik.
## Nur 29 Wähler kommen bis zum Nachmittag
In dieser Abstimmung geht es um insgesamt 206 Veränderungen. Der Wähler
kann sie billigen oder auch nicht. Diese Prozedur der „odobrenie“ lockt
nicht jeden Bürger an und besitzt auch keine juristische Kraft. An diesem
Montag um 15 Uhr haben erst 29 Wähler ihre Stimme bei Viktor Katkow
abgegeben. Das seien nicht einmal ein Prozent der eingeschriebenen
Wahlberechtigten, sagt der Wahlleiter.
Seine Partei hat sich dafür entschieden, gegen die Eingriffe in die
Verfassung zu stimmen. Das ist bemerkenswert, da die Kommunisten bisher
immer einen Dreh gefunden haben, um den Wünschen Wladimir Putins zu
entsprechen. Diesmal bleiben sie hart. Das entbinde ihn jedoch nicht von
den Aufgaben des Wahlleiters, der die Abstimmung auf der lokalen Ebene
garantieren muss.
Im Wahlbüro der Berufsschule für Dienstleistungen im Gaststätten- und
Hotelgewerbe sind außer Katkow noch fünf weitere Helfer im Einsatz. Die
Aufgabe ist ermüdend, jeder Besucher wird als ein besonderes Ereignis
wahrgenommen. Dennoch schätzt der Leiter, dass das Endergebnis den Kreml
zufriedenstellen wird.
80 Prozent der abgegebenen Stimmen seien für die Veränderungen und nur 20
Prozent dagegen, wirft eine Kollegin ein. Ihr ist nicht bewusst, dass sie
damit die Ergebnisse von Exit-Polls preisgibt. Deren Verbreitung ist
während des laufenden Wahlgangs eigentlich verboten. Mit demokratischen
Feinheiten nimmt es in Russland niemand so genau.
Am Eingang liegen Gesichtsmasken für die Besucher bereit. Die Mitarbeiter
halten Abstand. Wer das Büro betritt, muss wie im Flughafen durch einen
Sicherheitsrahmen.
Viktor Katkow trägt ein blaues Oberhemd und einen karierten Schlips. Er
hinterlässt einen sehr korrekten Eindruck. Ihn umgibt noch so etwas wie die
Aura eines kommunistischen Funktionärs aus der alten Partei. Im Vergleich
zu den Zöglingen Wladimir Putins aus der Kremlpartei Vereinigtes Russland
(VE) scheinen diese alten Herren im Rückblick ehrlich und rundum anständig.
Warum braucht Russland plötzlich eine Verfassungsveränderung? Darauf kann
die Wahlkommission in der Berufsschule keine klare Antwort finden – man
müsse eben mit der Zeit gehen.
## Der Weg zum Referendum
Als sich der Präsident am 15. Januar mit einem Appell zu einer
Verfassungsänderung unangekündigt zu Wort meldete und zugleich
Premierminister sowie das Kabinett auswechselte, waren selbst enge
Mitarbeiter des Kremlchef überrascht und überrumpelt. Putin schien um seine
Zukunft besorgt. Wie sollte es nach der nächsten Präsidentenwahl 2024
weitergehen, dann, wenn die geltende Verfassung seine eigene Wiederwahl
ausschließt? Putin benötigt die Legitimität der Volksabstimmung, auch wenn
sie nicht bindend ist. Das Volk soll ihn zu seinem Kandidaten machen.
Allerdings zeigt die russische Geschichte, dass derartige Quasireferenden
kaum lange vorhalten. Die Abstimmung im Frühjahr 1991 für den Erhalt der
Sowjetunion lag schon im August in Trümmern.
Die geltende russische Verfassung hielt nun, im Frühjahr 2020 kein
Schlupfloch mehr bereit, um Putins Machterhalt zu garantieren. Die Lösung,
über eine Aufwertung des Staatenbundes zwischen Russland und Weißrussland
die Voraussetzungen für eine Wiederwahl des Kremlchefs zu schaffen, war
nach zähen Gesprächen mit dem weißrussischen Präsidenten Alexander
Lukaschenko gescheitert. Der Weißrusse wollte nicht auf Souveränität
verzichten, offensichtlich.
Es musste also eine andere Lösung her. Auf Versammlungen zur
Verfassungsänderung schlugen die anwesenden Honoratioren mehr als 200
Verfassungsänderungen vor, die angenommen wurden. Natürlich erst nach
Endredaktion durch den Kreml. So kam ein Sammelsurium zusammen. Erst nach
und nach wurde deutlich, worauf es wirklich ankommt. Wladimir Putin, seit
20 Jahren mit Unterbrechungen als Präsident Russlands an der Macht, wollte
wiedergewählt werden.
Auf dem Wahlzettel mit den Veränderungen fällt der Passus über die
„Nullifizierung“ der Amtszeiten nicht auf. Auch die offizielle Werbung
spart die mögliche Wahl eines ewigen Präsidenten aus.
Sowjetastronautin Valentina Tereschkowa hatte im März diesen Vorstoß zur
Wiederwahl gewagt. Wladimir Putin stimmte erleichtert zu. Innerhalb von
zwei Tagen gaben das Verfassungsgericht, die regionalen Parlamente und das
Oberhaus ihr Plazet.
Die anderen Eingriffe in die Verfassung gelten dagegen nur als Dekoration,
die vom Hauptzweck, der Herrschaft auf Lebenszeit, ablenken soll. Für
konservative Wähler wird die Ehe zwischen Mann und Frau festgeschrieben,
die Indexierung von Renten versprochen, sowie russische Sprache und die
Rolle der Russen als staatsbildender Ethnos festgehalten. Nebenbei wird
überdies die Überlegenheit des russischen über internationales Recht
verankert.
Das Potpourri soll in unterschiedlichen Milieus mobilisieren. Einzelne
Punkte herauszugreifen, lässt die Wahl nicht zu. Wer im Block für alles
stimmt, verlängert auch Putins Zeit als Quasimonarch.
Erst kürzlich gab der Präsident das Motto aus, mit der Suche nach einem
Nachfolger würde nur Zeit vertan. Arbeiten! hieße es jetzt. Bislang wurden
in 20 Jahren Putin-Herrschaft die Ärmel vor allem in Kriegen gegen
Georgien, die Ukraine oder Syrien hochgekrempelt.
Die neue Verfassung liegt unterdessen schon in den Buchläden aus.
Kremlsprecher Dmitrij Peskow erklärt das damit, dass die Wähler schließlich
wissen sollten, wofür sie stimmten. Das bekommen die Bürger eigentlich auch
so mit, nur eines wird ihnen verschwiegen: das Plazet zur Wiederwahl
Wladimir Putins, das sich im Kleingeschriebenen verbirgt.
Die Verkäuferin in der Kette Bücherlabyrinth reagiert erregt. Die Wahlen
seien doch erst am 1. Juli beendet, meint sie auf Frage nach einem neuen
Exemplar.
Ursprünglich war das Referendum schon für den 22. April angesetzt. Dann kam
Corona. Die Frage nach einem Ersatztermin blieb länger unbeantwortet, bis
der Kremlchef im Mai das Virus für besiegt erklärte und die Abstimmung für
den 1. Juli ansetzte. Seither gilt Russland, zumindest das patriotische,
als weitgehend virusfrei.
## Wählen auch aus der Sommerfrische
Die Bürger dürfen schon seit dem 25. Juni wählen: zu Hause, elektronisch
oder in den Wahlbüros. In den Hausfluren hängen die entsprechenden
Ankündigungen. Auch eine Bestellung der ambulanten Urne nach Hause ist
möglich, ebenso eine Abstimmung während der Sommerfrische auf der Datscha.
Am 1. Juli sind die Wahllokale zum letzten Mal geöffnet.
Offiziell soll die Entzerrung Staus vermeiden und Ansteckungen verhindern.
Kritiker gehen jedoch davon aus, dass der entzerrte Wahlmodus vor allem
dazu dient, um die zivilgesellschaftliche Kontrolle zu erschweren.
Wahlbeobachter von der Initiative Golos dokumentierten unzählige Verstöße.
Wer sich gegen Missbrauch absichern möchte, geht am besten kurz vor
Toresschluss zur Wahl, rät ein Aktivist.
Journalisten und Beobachter behaupten unabhängig voneinander: Der Druck auf
die Wähler sei extrem. Lehrer würden dazu gezwungen, Angehörige zur
Abstimmung zu schleppen. Die Mobilmachung sei total, meint ein alter
Bekannter.
Der frühe Wahltermin lässt vermuten, dass Putin fürchtet, bei einer
Verlegung in den September könnte die Wirtschaftskrise die Bürger von der
Wahl abhalten. Umfrageinstitute sagen für den Herbst Proteste voraus.
Zurzeit steht es nicht allzu rosig um die Werte des Präsidenten. Seit
Herbst 2017 ist das Vertrauen in ihn von 59 auf mittlerweile 25 Prozent
gesunken. Dennoch: Mehr als 60 Prozent billigen nach wie vor seine
Herrschaft, auch wenn ihn im Vergleich zu 2018 heute nur ein Drittel der
Wähler wieder zum Präsidenten mache würde.
Erstwählerin Anastasia wird am Ende im Wahlbüro in der Ordschonikidse
Straße beschenkt. Es gibt ein blaues Gummibändchen für den Arm mit der
Aufschrift. „Ja, ich habe die Zukunft verändert.“ Und den guten Rat einer
Mitarbeiterin im Rentenalter, wo sie das Häkchen machen sollte.
Außerdem nimmt Anastasia an einer Lotterie teil. 2.000 Rubel für ein Essen
mit Freunden spendiert der Staat für die Wahl. Anastasia hat ein schlechtes
Gewissen. Sie hat gegen die Verfassungsänderungen gestimmt.
1 Jul 2020
## AUTOREN
Klaus-Helge Donath
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