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# taz.de -- Verfassungsänderung in Russland: Leben unter dem ewigen Putin
> Nach der Volksabstimmung kann Präsident Wladimir Putin nun bis zum Jahr
> 2036 im Amt bleiben. Was bedeutet das für junge RussInnen? Vier
> Protokolle.
Bild: Putin will keinen Dialog mit uns, der jungen Generation, sagt Valentina A…
„Vielleicht ist meine Generation verloren“
Valentina Angarkhaeva, 35 Jahre. Sie stammt aus Ulan-Ude, lebt seit fünf
Jahren im sibirischen Irkutsk. Sie ist, wie sie selbst formulierte, „child
free“. Angarkhaeva hat in Ulan-Ude Volkswirtschaft studiert, studierte ein
Semester in Hamburg Theaterwissenschaften, spricht fließend deutsch und
arbeitete bis Februar als Reiseleiterin.
Seit dem 29. März gehe ich [1][wegen dem Coronavirus] kaum aus dem Haus,
nur einkaufen oder spazieren. Seit März habe ich keine Aufträge mehr, alles
ist gecancelt, die Grenzen sind zu. Das Arbeitslosengeld ist so niedrig,
dass ich es gar nicht erst beantragt habe. Ich wohne bei meinen Eltern
etwas außerhalb des Zentrums. Hier im Gebiet Irkutsk ist die Infektionsrate
mit dem Coronavirus besonders hoch.
Ich war nicht bei der Stimmabgabe. Meine Mutter schon. Sie hat mit „Nein“
gestimmt. Meine 90-jährige Oma mit „Ja“. Ich verstehe nicht, warum [2][das
Referendum] auf einmal so schnell durchgezogen wird. Man gaukelt uns damit
vor, wir könnten mit unserer Stimme auf irgendetwas Einfluss nehmen. Aber
meine Stimme nimmt auf gar nichts Einfluss. Was ich sehe, ist, dass die,
die an der Macht sind, diese nicht abgeben wollen. Sie wollen keinen Dialog
mit der jungen Generation und auch keinen Generationenwechsel.
Wirtschaftlich werden wir uns weiter isolieren von der übrigen Welt. In den
nächsten 16 Jahren wird Russland kein Transitland sein für den Warenverkehr
zwischen China und Europa, obwohl es das sein könnte, wenn es wollte. Der
Mensch steht historisch gesehen im politischen und gesellschaftlichen Leben
Russlands nicht im Mittelpunkt.
Vielleicht ist meine Generation auch schon eine verlorene Generation. Die
20-Jährigen haben noch Ideale, stecken voller Energie. Doch Hoffnungen
haben sie auch nicht. Wir sind auch nicht schlechter als andere europäische
Völker. Wir haben nicht nur das Recht auf ein Leben mit einem gewissen
Existenzminimum. Wir hätten für so ein Leben die Ressourcen und die
Menschen.
Ich weiß, dass viele von uns, die jetzt im Ausland leben, sich als
Geschäftsleute eine Existenz aufgebaut haben, gerne wieder nach Russland
zurückkehren würden. Hier ist ihnen alles vertraut. Hier herrscht ein gutes
Mikroklima. Man kennt die Mentalität seiner Leute. Doch bei der derzeitigen
Entwicklung ist ein Leben für sie hier nicht attraktiv.“
Protokoll: Bernhard Clasen
***
„Am meisten ärgern die Tricksereien“
Polina Rysakowa, 41 Jahre, Dozentin für Sinologie an der Universität von
Sankt Petersburg, Dolmetscherin für Chinesisch, Reiseleiterin, Abgeordnete
der Jabloko-Partei im Zentrum von Sankt Petersburg.
Eigentlich hätte ich im Juli kaum Zeit für Interviews. Normalerweise bin
ich da in Museen und vor Sehenswürdigkeiten als Reiseleiterin für
Touristen. Doch dieses Jahr gibt es keine. Wirklich schlimm trifft mich das
nicht, da ich ja noch meine Vorlesungen als Dozentin online geben kann, für
die mich der Staat bezahlt.
Wirklich schwer haben es Leute, die bisher nur vom Tourismus oder
Dolmetschen gelebt haben. Ich habe bei der Verfassungsänderung mit „Nein“
gestimmt. Was mich an diesem Referendum ärgert, ist weniger die Tatsache,
dass sie [3][Putin die Möglichkeit lässt, bis 2036 Präsident zu bleiben].
Was mich mehr ärgert, ist das Drumherum, die Tricksereien. Diese Wahlen
finden unter Bedingungen statt, die eine Wahlbeobachtung erschweren. Wahlen
müssen ohne Unterbrechung durchgeführt werden. Doch diese Abstimmung geht
über mehrere Tage, das heißt, jeden Abend werden die Wahllokale
geschlossen. Unter diesen Umständen können Wahlbeobachter, die ja vom
Moment der Stimmabgabe bis zum Zählen der Stimme präsent sein müssen, nicht
immer vor Ort sein.
Mich ärgert auch, mit welcher Leichtigkeit wichtige Dinge wie eben die
Amtszeit eines Präsidenten zur Disposition gestellt werden. Es ist auch
nicht in Ordnung, dass en bloc über mehr als 200 Verfassungsänderungen
abgestimmt wird. Dabei wird die Änderung über das Auf-null-Setzen von
Putins Amtszeitenzähler weitgehend ausgeblendet. Unter diesen
Änderungsvorschlägen sind Vorschläge, die ich gut finde. Aber deswegen hab
ich trotzdem nicht dem ganzen Paket zustimmen wollen. Andere haben das
gemacht. Viele meiner Bekannten, Verwandten und Weggefährten haben die Wahl
gleich ganz boykottiert. Ich halte das für falsch. Man muss präsent sein.“
Protokoll: Bernhard Clasen
***
„Für mich sehe ich keine Perspektive“
Maria Jones, 30 Jahre, akademisch ausgebildete Übersetzerin für Englisch
und Deutsch, Kirow.
Als ich bei der Verfassungsreform in der Wahlkabine der medizinischen
Fachschule meine Stimme abgegeben habe, hätte jeder hinter mir sehen
können, wo ich mein Kreuz mache. Die Kabine hatte nur drei Wände. Absurd.
Ich habe trotzdem mit „Nein“ gestimmt, wie alle meine Bekannten auch.
Ich wollte meinen Unmut gegen die fortbestehende Macht in Russland
ausdrücken. Außerdem war sowieso alles vorher entschieden. Die neue
Verfassung war ja auch schon gedruckt. Die da oben verstecken das alles ja
nicht einmal mehr, ziemlich dreist. Russische Gesetze stehen über der
Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte. Das alles
macht mir Angst, und ich bin damit absolut nicht einverstanden.
Beruflich bin ich so weit zufrieden. Ab und zu schreibe ich Texte für einen
Youtube-Kanal. Da werden nur leichte, populärwissenschaftliche Themen
verhandelt. Sex, Gewalt, Krieg, Gewalt und Politik kommen nicht vor. Und
dann bin ich auch noch in einer Bibliothek beschäftigt. Der Job macht mir
eigentlich Spaß, obwohl ich das natürlich auch wegen des Geldes mache. Ich
organisiere virtuelle Ausstellungen mit Büchern, die vor der
Oktoberrevolution herausgegeben wurden. Für 20 Stunden bekomme ich
umgerechnet 150 Euro. Das entspricht dem hiesigen Durchschnitt.
Und jetzt also vielleicht noch einmal 16 Jahre Putin. Ich befürchte, dass
alles noch schlimmer wird. Die Anzahl der Unterstützer des Präsidenten wird
wachsen, weil [4][die Propaganda sehr wirksam ist]. Für mich sehe ich mit
der wachsenden Isolation des Landes keine Perspektive. Ich arbeite gern mit
Ausländern, und die werden weniger werden. Ich kann mein Wissen nicht
einbringen, und das ist traurig. Ich spiele mit dem Gedanken, Russland zu
verlassen. Das hat auch mit meinen Träumen zu tun. Ich möchte unabhängig
sein, tun, was mir gefällt. Einfach glücklich sein.“
Protokoll: Barbara Oertel, Mitarbeit: Anna Laletina
***
„Gewisse Prozesse lassen sich nicht aufhalten“
Vitalij Servetnik, 33 Jahre, wohnt in Murmansk und St. Petersburg. Er ist
Lehrer für Geographie, sowie Umweltschützer und Menschenrechtsaktivist.
Als Aktivist beobachte ich seit längerer Zeit einen zunehmenden Druck auf
Umweltschützer, in meiner Heimatstadt Murmansk, aber auch russlandweit. Und
dieses Referendum, oder wie auch immer man diese Abstimmung nennen mag, ist
ein gewisser Rubikon, der nun überschritten wird.
Letztendlich war das Referendum symbolisch. Ich selbst habe mit „Nein“
gestimmt. Wenn du willst, dass man dich hört, musst du dich auch
artikulieren, meine ich. Gleichwohl will ich das Verfahren nicht
legitimieren.
Denn es gab weder eine allgemeine Diskussion im Vorfeld, noch eine nach
Themen getrennte Abstimmung. Dabei könnte ich einige Änderungen durchaus
mittragen. Doch da das Ganze im Kern darauf hinausläuft, einer Person den
Verbleib an der Macht zu ermöglichen, können auch positive
Veränderungsvorschläge, etwa im Bereich der Ökologie oder Tierschutz, eine
Ja-Stimme nicht rechtfertigen.
Natürlich gibt es Prozesse, die unabhängig von Änderungen an der Verfassung
stattfinden. Der Einsatz für die Umwelt hat in Russland seit 2005
abgenommen. Auch der Prozess der „Entökologisierung“ der Gesetzgebung geht
weiter. Gleichzeitig werden Rechte und Freiheiten immer mehr eingeschränkt.
Mit dem Referendum hat die Macht lediglich zum x-ten Male gezeigt, dass sie
jedes Gesetz durchbringen kann, wenn sie es will, und sich dabei um die
Meinung der Bevölkerung nicht scheren muss.
Mein ganzes erwachsenes Leben habe ich unter diesem Menschen verbracht. Und
jetzt noch mal 16 Jahre! Sogar für Ehepaare wäre das eine stolze Zeit. Ob
er so lange bleibt, hängt nicht nur von ihm, sondern von der Gesellschaft
ab. Aber ich glaube nicht, dass wir noch 16 Jahre mit diesem Menschen
verbringen werden. Es gibt gewisse Prozesse in der russischen Gesellschaft,
die sich nicht aufhalten lassen. Veränderungen geschehen mitunter auch sehr
schnell. Große Hoffnungen setze ich da auf die Jugend.
Protokoll: Bernhard Clasen
4 Jul 2020
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